„Wer zur Quelle will, muss gegen den Strom schwimmen“, wusste schon Konfuzius. Oder er oder sie radelt. Beispielsweise, und nur bedingt philosophisch gemeint. Dass ich die Quelle der Havel von ihrer Mündung in die Elbe aus in Angriff nahm, war kaum mehr als ein Zufall. So konnte ich unterwegs noch Freunde treffen. Und irgendwie versprach ich mir davon auch mehr Rückenwind. Was nicht ganz falsch war, aber bei einem Fluss, der sich hufeisenförmig durch die Landschaft windet, im Grunde auch nicht wirklich bedeutsam ist. Irgendwann kommt der Wind doch von vorn. Was hier ebenfalls eher wörtlich zu verstehen ist.
Dass die Havel ein Hufeisen ist (und Berlin mittendrin), hatte mir allerdings noch vor dem Wind die Begegnung mit einer Berlinerin vermittelt, die zu meinem Erstaunen verkündete, dass sie abends wieder nach Hause führe, um die Blumen zu gießen. Tagsüber radelte sie auf den Spuren ihres Urgroßvaters (vielleicht war es auch noch ein „Ur“ mehr) durch das Land Schollene, da, wo die Havel von Osten kommend ihre Fließrichtung nach Norden ändert. Der Urahn war vor dem großen Brand 1844 Pächter auf einem der Güter in der Gegend gewesen und hatte umfangreiche Aufzeichnungen hinterlassen.
Tagesurlauber aus Berlin sollten mir bis zur Quelle immer wieder begegnen. Ebenso wie Soljanka. Leider ausschließlich in der Fleisch- oder Wurstvariante. (Zitat eines Wirts: „Einen Tag koche ich sie mit Fleisch, den nächsten mit Wurst, damit die Leute Abwechslung haben. Und zu Hause schneide ich auch noch ein paar Knacker mit rein.“) Angeblich gibt es den beliebten Eintopf aus der DDR-Gastronomie auch mit Fisch oder Pilzen. In den Gasthäusern, in die ich einkehrte, war das nicht der Fall. Dabei habe ich fast schon repräsentativ zu nennende Feldstudien betrieben.
Am Plauer See traf ich meine Freunde – und den ebenfalls sehr geschätzten Theodor Fontane, der mir zuletzt im Spreewald begegnet war, dort wie hier auf einer seiner vielen Wanderungen durch die Mark Brandenburg: „Am schönsten ist es aber doch am Rand des Sees, wo Weidicht und Rohr abwechseln. Besser: hoch das Rohr steht. Es ist wie zu Johann von Quitzows Tagen. Hier sitzen im Abendschein. Dann rauscht und raschelt es. Man horcht auf und fröstelt, als führe Quitzow heraus.“ Das tat er zum Glück nicht, ebenso wenig wie sein Bruder Dietrich. Um 1400 herum zählten die Gebrüder zu den gefürchtetsten Raubrittern im Raum Berlin-Brandenburg und eroberten von der Burg Plaue aus unter anderem das heutige Oranienburg.
Dorthin führte mich ein paar Tage später auch der Weg. Die Städte Brandenburg und Werder, beide malerisch mehr oder weniger mitten in die Havel gebaut, lagen da schon hinter mir, ebenso wie das großartige Potsdam. Aber eben auch noch ein ordentliches Stück bis zur Quelle vor mir. Zeit für ein Geständnis, denke ich: Wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs bin, zieht es mich weiter, immer weiter. Nicht schnell, aber stetig. Ich bin dann im Fahr-, nicht im Besichtigungsmodus und auch lieber draußen als drinnen.
So kommt es, dass ich zwar durch Sanssouci und andere Schlossparks gestreift bin (ganz toll sind die „Gartenzimmer“ in Oranienburg), durch Babelsberg, über die Glienicker Brücke und am Haus der Wannsee-Konferenz vorbei, dass ich mir aber von innen höchstens mal ein Kirchlein angesehen habe. Und die Herberge am Trockendock natürlich, in die es mich eines Nachts verschlug und die früher mal ein Akkumulatorenwerk gewesen ist. Mehr wussten die freundlichen Mitarbeiterinnen leider nicht über die Geschichte des Hauses zu berichten.
Auf dem Gelände des Ziegeleiparks in Mildenberg, der ab Ende des 19. Jahrhunderts beinahe hundert Jahre lang einer der wichtigsten Orte der Ziegeleiproduktion in Europa war, hätte ich dagegen um ein Haar übernachten müssen, so viel hatten Günter und Andreas über Herstellungsverfahren und Arbeitsbedingungen zu erzählen – und so gern habe ich den beiden zugehört. Den Reizen der Deetzer und Götzer Erdlöcher und der Zehdenicker Tonstichlandschaft war ich ohnehin längst erlegen: Die Gruben, die sich nach der Stillegung der Ziegeleien nach der Wende mit Wasser füllten und seither Tieren und Pflanzen Lebensraum bieten, lassen die jahrzehntelangen menschlichen Eingriffe allenfalls noch erahnen.
Begonnen hatte ich die Tour im Hochsommer. Aber so langsam wurden die Brisen auch im Osten immer steifer, der Himmel immer schauriger. Also feste in die Pedale getreten. Noch schnell ein Abstecher nach Neustrelitz, noch einmal unter dem Regen durchgetaucht, ein letzter Besuch in einem Hofcafé – und die Quelle war erreicht! Längst nicht so beeindruckend wie die Mündung, zugegeben, aber ich war am Ziel. Oder doch beinahe.
555 Kilometer standen am Ende auf dem Tacho. Der Havel-Radweg selbst ist mit 378 Kilometern ausgewiesen, aber man muss ja auch irgendwie hin- und wieder wegkommen. (Mit der Bahn bieten sich Wittenberge an der Elbe und Waren an der Müritz als An- bzw. Abreiseorte an.) Und ein bisschen links und rechts des Wegs zu stromern gehört zum Vergnügen einfach dazu, finde ich.
Ein wunderbar philosophischer und unterhaltsamer Reisebericht von Dir (wieder einmal). Wie schön, dass Du gegen die Strömung, gegen den Wind anradelst und uns teilhaben lässt 🙂
Das tu ich gerne wieder, Birgit, ob mit oder gegen den Strom – und ganz besonders nach so schönem Feedback. 🙂
Schön! Da freue ich mich auf weitere Berichte.
…und das schon vorm Frühstück… Ein Fluss als Hufeisen, Deetzer und Götzer Erdlöcher, die Zehdenicker Tonstichlandschaft, Übernachtung in einem ehemaligen Akkumulatorenwerk — zum Glück hat mich das Wort Soljanka wieder geerdet…
Ich danke für den Bericht und die tollen Fotos.
(Ich will endlich auch wieder einmal an einem Fluss entlang radfahren)~~~
Morgensommersonnige Grüsse vom Schwarzen Berg
Oh, hätte ich um die Wirkkraft der Soljanka gewusst, ich hätte die Feldstudien gewiss um einiges ausgedehnt…! So speise ich nette Kommentare zum Abendbrot und sinne darüber nach, was genau es ist, das Radfahrten am Fluss so genussreich macht. Ganz pragmatisch gehört sicher dazu, dass man meist keine Berge zu überwinden hat. Vielleicht demnächst in und um Bembeltown? Ich drücke die Daumen. 😉
Das relativ ebene Gelände spricht ganz eindeutig für Fahrradflussufertouren.
(Soljanka muss nicht mehr sein, nach meinen leibhaftigen Geschmacksproben).
Im Ernst, entlang der Flussufer gibts immer was zu sehen, abwechslungsreich, denn dort bewegte und begegnete sich die Welt, selbst an kleineren Flüssen…
Ich gelange zu der Einsicht, mehr alte Lehrstücke aus meinem Leben erzählen zu wollen…
Abendschönleichtbeschwingte Grüsse vom Schwarzen Berg
Welch schöne Bilder und welch schön erzählter Bericht. Vielen Dank dafür. Liebe Grüße
Ich danke dir! Und einen herzlichen Gruß zurück!
So schön! Und das Blaugrün als willkommene Abwechslung zum tristen Grau beim Blick auf dem Fenster.
Viele Grüße, Claudia
Freut mich, dass ich dir ein bisschen Farbe vors Fenster zaubern konnte, Claudia! Die Sonne kommt hoffentlich ganz bald hinterher! (Nach Hamburg ist sie bereits zurückgekehrt.)
Was für eine schöne Reise, liebe Maren – vielen Dank, dass Du uns auf Deiner beeindruckend langen Radtour mitgenommen hast! Und ich bekomme gerade arges Fernweh, wenn ich bei Dir der Glienicker Brücke oder dem Haus der Wannsee-Konferenz wiederbegegne…
Wie schön, dass du auch dieses Mal mitgekommen bist, liebe Andrea! In Potsdam weht einen der Hauch der Geschichte wirklich fast um. Ich glaube, da muss ich bald noch einmal hin. Die Kilometerzahl hatte ich übrigens nicht genannt, um mit der Länge der Strecke zu protzen, sondern weil ich sie so schön fand – und ganz zufällig entstanden… 🙂 Liebe Grüße!