Was weiß ich eigentlich über Äthiopien? Vor meiner Reise ans Horn von Afrika war das nicht gerade viel: Das einzige afrikanische Land, das nie von Europäern kolonisiert wurde, sieht man einmal von ein paar Jahren Besatzung unter Mussolini ab. Dazu einer der ältesten christlich geprägten Staaten der Erde. Ein paar Namen hatte ich im Kopf: Haile Selassie, der letzte Kaiser, und Haile Gebrselassie, die Lauflegende. Bilder von Kindern mit großen Augen und aufgedunsenen Bäuchen, die während der Hungersnot Mitte der achtziger Jahre weltweit über die Fernsehbildschirme flimmerten. Bilder von Frauen mit riesigen Tontellern in den gedehnten Unterlippen. Aber die würden wir auf unserer Reise mit Sicherheit nicht zu Gesicht bekommen, denn der Volksstamm der Mursi, denen Tellerlippen als schön gelten, lebt im Süden Äthiopiens, während wir das Hochland im Norden bereisen wollen. Das „Dach Afrikas“ mit seinen über 4.500 Meter hohen Gipfeln, dessen schroffe Schönheit wohl keiner eindrucksvoller im Bild eingefangen hat als der brasilianische Fotograf Sebastião Salgado, von dem ich hier schon geschwärmt habe.
Doch bevor wir dem Kontinent aufs Dach steigen, werfen wir noch einen Blick in die „Wiege der Menschheit“. Im Nationalmuseum von Addis Abeba liegt das erstaunlich umfangreich erhaltene Skelett von „Lucy“, einer bei Hadar in der Danakil-Ebene gefundenen gut einen Meter kleinen Dame aus der Gattung der Affenartigen oder Vormenschen. Das Gebiet des Afrikanischen Grabenbruchs ist einer der wichtigsten paläontologischen Fundplätze der Welt. Durch die bis heute andauernden seismischen Verwerfungen treten hier Erdschichten an die Oberfläche, die normalerweise viel tiefer liegen. Nicht nur Überreste menschlicher Vorfahren, auch Tiere und Pflanzen der Urzeit werden so entdeckt. Im Museum betrachtet ein Junge die Knochen eingehend von allen Seiten. Wenn er sich nicht gerade Notizen macht, lutscht er mit großen Augen am Kugelschreiber. Studierender und Studienobjekt – ungefähr gleich groß, voneinander getrennt nur durch ein wenig Glas und bummelig 3,2 Millionen Jahre.
Überall in der äthiopischen Hauptstadt (und nicht nur dort) wird gebaut wie verrückt. An jeder Ecke stehen halb fertige Gebäude. Filigrane Gerüste aus Eukalyptusholz lassen an den Turmbau zu Babel denken, sollen aber sehr stabil sein, wie uns Alex, unser Guide, versichert. Dünne Eukalyptusstämme stützen frisch gegossene Betondecken. Oft ist das Erdgeschoss schon bewohnt, während in den Stockwerken darüber noch (oder vielleicht irgendwann später wieder) gearbeitet wird.
Auch der Entoto-Berg, der Hausberg von Addis, ist komplett mit Eukalyptus bestanden. Ungezählte Frauen machen sich vor Sonnenaufgang auf den Weg nach oben, sammeln abgebrochene Zweige und schnüren sie zu teilweise über einen Zentner schweren ausladenden Bündeln, die sie anschließend in die Stadt hinunter wuchten, um sie für umgerechnet wenige Euro als Brennholz zu verkaufen. Wird die Last unterwegs zu schwer, stellen die Frauen sie auf einer Mauer am Straßenrand ab, vom Erdboden würden sie sie nicht wieder hoch bekommen. Für fast denselben Preis wie eines dieser riesigen Reisigbündel kaufen wir in der Münchner Bäckerei, in die uns Alex führt, um unsere Mägen am Anfang der Reise zu schonen, Sandwiches.
Allein streife ich an diesem ersten Tag in Äthiopien schließlich über den Markt, suche, unsicher und tastend noch, zwischen Verkäufern, Käufern und Bettlern meinen eigenen Rhythmus aus Gehen und Schauen, aus Kontakt und Distanz. Ich denke an all die Menschen, die gerade unter anderem aus dem benachbarten Eritrea, aber auch aus Äthiopien, das zwar baut wie verrückt, aber immer noch zu den ärmsten Ländern der Welt zählt, in meine Heimatstadt kommen, wo sie zum Teil in Zelten untergebracht werden, während wir umgekehrt im äthiopischen Hochland campieren wollen. Das kommt mir plötzlich ziemlich bizarr vor. Hätte ich nicht lieber ein paar gute Schlafsäcke kaufen und zu einer der Flüchtlingsunterkünfte in Hamburg bringen sollen?
Toller Text, tolle Bilder. Danke.
Danke schön. Das freut mich.
Nein, hättest du nicht oder höchstens auch. Du bringst die Fremde nach Hause. Beides ist wichtig.
Liebe Grüße
Christiane
Was für ein feines Bild, liebe Christiane: die Fremde nach Hause bringen! 🙂
Ich freue mich auf mehr davon. Wirklich! 🙂
Und ich freue mich über dein Interesse.
Liebe Maren, schön, dass du wieder da bist! Und (nicht ganz überraschend) hast du uns tolle Bilder mitgebracht. Ich bin ja nun das Gegenteil von einer „Reisetante“ und bin daher umso froher, wenn ich trotzdem etwas zu sehen bekomme und mit dir durch die Welt reisen kann. Nun also Äthiopien – ich bin gespannt, was wir da alles erleben werden 😉
Haha, du bringst mich zum Lachen, Jutta. Klasse, dass du auch als Nicht-Reisetante wieder mitkommst auf die virtuelle Reise!
Spannend!! Nach Äthiopien möchte ich unbedingt auch einmal, jedenfalls seitdem ich Meike Winnemuths Buch gelesen habe… – und Deinen Bericht 🙂
Ja, Äthiopien hat viele spannende Gesichter. Meike Winnemuth war, wenn ich das richtig erinnere, besonders angetan von den großartigen Felsenkirchen in Lalibela. Von denen wird hier auch noch die Rede sein.
Ich freu mich drauf!
Berührend. Danke fürs Teilen.
Sehr gern, Anna.
Liebe Maren, schön bist du endlich wieder hier! Und bringst gleich wieder klasse Bilder und nachdenkliche Texte mit. ja, das Leben ist bizarr, ob nun mit oder ohne Schlafsäcke … ich weiss von Äthiopien auch nicht viel, aber das wird sich jetzt bestimmt bald ändern, wenn du weiterhin berichten wirst- was mich nur wunderte ist, dass du schreibst, dass es eines der ältesten christlichen Länder sei, und gleichzeitig nie kolonialisiert wurde -m- wie geht das zusammen?
herzliche Grüsse und ein noch herzlicheres Willkommen zurück
Ulli
Vielen Dank für dein Interesse und das herzliche Willkommen, liebe Ulli. Das orthodoxe Christentum wurde in Äthiopien Staatskirche, lange (ziemlich genau 1000 Jahre) bevor sich die ersten europäischen Seefahrer aufmachten, die Weltmeere zu besegeln und die Kontinente zu erobern. Einen ganz guten Überblick findest du hier: https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%84thiopisch-Orthodoxe_Tewahedo-Kirche.
Liebe Maren, deinen letzten Gedanken kann ich gut nachvollziehen. Andererseits: Wer so wie Du mit offenem Geist und Herzen reist, trägt dazu bei, dass die Menschen, die flüchten müssen, bei uns nicht fremd und alleine bleiben. LG Birgit
Wenn das kein schöner Gedanke ist, liebe Birgit! Ich danke dir sehr für deine Wohlworte und hoffe, ich kann ihnen möglichst oft gerecht werden.
Liebe Maren,
ich freue mich auch, Dich endlich wieder lesen zu können. Und da ich bestimmt so schnell nicht nach Afrika reisen werde, bin ich auch wieder sehr gespannt auf Deine Bilder und die wunderbaren kleinen Einblicke in die Besonderheiten äthiopischen Lebens, die Du uns hier sicherlich – wie schon in diesem Bericht über den Eukalyptus – wieder zeigen und erzählen wirst.
Viele Grüße, Claudia
Liebe Claudia, auch dir ein herzliches Dankeschön für dein Interesse. Da halte ich es eindeutig mit den arabischen Geschichtenerzählern: Je mehr die Zuhörer (Leser) mitgehen, desto mehr Spaß macht das Erzählen (Schreiben). 😉
Freue mich auch, daß Du zurück bist und danke für den Bericht und die beeindruckenden Fotos. Deinen letzten Satz kann ich sehr gut nachvollziehen.
Liebe Grüße.
Herzlichen Dank – auch für das Nachvollziehen-Können.
Ach toll, wieder Afrika ….. Viele, viele Eindrücke wünsche ich dir und mir viele, viele Fotos
Ich würde sagen: Treffer auf der ganzen Linie. Bin randvoll mit Eindrücken zurückgekehrt und das ein oder andere Foto war, glaube ich, auch im Gepäck. 😉
Und Lucy in natura …… diese kleine Verwandte würde ich auch gerne sehen
mit großer Spannung und Anteilnahme las ich deine Annäherung an ein unbekanntes Land. Es ist gut, dass du dort warst. Du verstehst nun mehr von den Bildern, die die ankommenden Flüchtlinge in ihrer Seele tragen. Das ist sogar wichtiger als Schlafsäcke.
Danke für deine einfühlsamen Worte, Gerda. Ja, letzten Endes glaube ich mit Alexander von Humboldt auch, dass es den eigenen Weltanschauungen bekommt, sich die Welt anzuschauen.
Liebe Maren, als vorgestern Dein ausführlicher Beitrag in meinem Reader erschien, hab ich ihn gleich wieder weggeklickt – weil ich ihn ganz in Ruhe lesen wollte. So gerade zum Morgenkaffee geschehen. Fabelhaft! (Aber das war ja klar). Liebe Grüße, Stefanie
Das freut und ehrt mich sehr, liebe Stefanie!
Pingback: Blogbummel November 2015 | buchpost