Hier ist ja nichts! Das Gesicht der älteren Berlinerin ist eine Mischung aus Staunen und Entsetzen, der Vorwurf in ihrer Stimme nicht zu überhören. Kein Wasser, sagt sie. Noch nicht mal Strand. Wann immer sie über den Deich geschaut habe, sei das so gewesen, nun schon den dritten Tag.
Der Deich, das ist die Trennlinie. Mit jedem Schritt den grünen Wall hinauf wird der Wind stärker. Sobald du oben stehst und dir die flatternden Haare aus dem Gesicht streichst, gibt es keine Grenzen mehr. So weit reicht der Blick, dass du meinst, die Krümmung der Erdoberfläche zu sehen.
Das ist’s, was mich hier so entzückt:
Diese unbedingte Weite,
dieser Horizont in Tief‘ und Breite
verschwenderisch hinausgerückt.
Christian Morgenstern: Weiter Horizont
Was du siehst, erscheint dir vielleicht nicht spektakulär. Links viele Kilometer Deich. Rechts viele Kilometer Deich. Vor dir ein paar Strandkörbe. Oder Schafe. Dahinter die Nordsee. Kann sein, sie ist gerade wieder einmal nicht da und du erkennst nur so ein schmales Geriffel weit draußen.
Und mittendrin Neptuns Schloss, das eigentlich eine Bohrinsel ist.
Zwischen Salzwiesen und Watt führt ein steinerner Damm hinaus aufs offene Meer. Und während ein vielstimmiger Vogelchor sogar den Wind übertönt, wird dein Atem allmählich tief und ruhig.
Es schmückt sich das Watt in den Farben des Himmels. Zuerst in allerlei Grau- und Blautönen.
Später am Nachmittag glitzert es in silberner Robe. Das ist die Zeit, in der ein Spaziergang Richtung Horizont besonders magisch ist.
Marie! ruft ein junger Vater seiner kleinen Tochter zu. Weißt du, was das Besondere ist: Wir laufen auf dem Meeresboden! Marie ist das egal. Ihr Himmel ist schlammfarben. Beseeligt vom Schmatzen des Schlicks unter ihren nackten Füßchen gräbt sie mit beiden Händen nach Muscheln und Wattwürmern.
Am Abend glüht das menschenleere Watt noch einmal in Orange, Rot und Rosé, bevor es erlischt.
Ans Haff nun fliegt die Möwe,
Und Dämmerung bricht herein;
Über die feuchten Watten
Spiegelt der Abendschein.
Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her;
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.
Ich höre des gärenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton,
Einsames Vogelrufen –
So war es immer schon.
Noch einmal schauert leise
Und schweiget dann der Wind;
Vernehmlich werden die Stimmen,
Die über der Tiefe sind.
Theodor Storm: Meeresstrand
Ja, ich weiß genau was du meinst. Ich bin gerade im Begeisterungstaumel für nördliche Landschaften mit unendlichen Himmeln. Nur schaffe ich es (noch) nicht ein Foto wie dein letztes hinzukriegen mit soviel schwarz ohne dass der Rest völlig überbelichtet ist ….
Hallo Myriade, ich habe schon gesehen, dass du im Nordlandschaften-Rausch bist. So eine Hurtigruten-Tour geistert mir auch immer mal wieder im Kopf herum. Das angesprochene Foto empfinde ich als technisch überhaupt nicht kompliziert. Es war ja kein starkes (Gegen-)Licht mehr zu der Tageszeit und ich habe die Kamera auch nicht direkt ins Licht gehalten. Das kannst du auch, da bin ich ganz sicher.
Bussi für die Ermutigung ❤ Ich bin eh schon zufrieden , dass ich verstanden habe, wie die Überbelichtungen meiner Bilder mit der "Schlauheit" der Kamera zusammenhängen.
Hurtigruten kann ich nur empfehlen. Es ist zwar – wie alles in Norvegen – extrem teuer, lohnt sich aber unbedingt. Auch prosaischere Naturen sind stundenlang in Wind und Wetter gestanden und haben die vorbeiziehende Landschaft bewundert.
soo schön… das weckt Sehnsucht… das ist das schöne am Norden: man kann weit blicken, der Kopf wird befreit, kein Berg stört den Blick. Wenn ich in den Alpen bin habe ich oft den Eindruck: links eine scheinbar endlose Wand, rechts eine endlose Wand, das erdrückt den Menschen. Allerdings muß ich als Landei die Frage stellen: wie lange kann man im Watt gehen und matschen, bis das Wasser wieder kommt? Man will ja nicht wie der Schimmelreiter Teil des Meeres werden…
Freut mich, dass dir die Bilder gefallen haben. Die Frage, wie lange du im Watt herumlaufen kannst, lässt sich nicht pauschal beantworten. Eine Tide, also einmal Ebbe und Flut, dauert gute zwölf Stunden. Du kannst gut schon ein, zwei Stunden vor Erreichen des Niedrigwassers losgehen, also mit dem immer noch ablaufenden Wasser. Am wichtigsten ist es, die Priele im Auge zu behalten. Die laufen als letzte leer und bei auflaufendem Wasser als erste wieder voll und können sich dann schnell zu gefährlichen Hindernissen entwickeln. Ich selbst habe großen Respekt vor dem Meer und gehe ohne kundigen Führer nicht sehr weit hinaus ins Watt sondern bewege mich lieber lange Strecken parallel zum Ufer. Das geht z.B. wunderbar an dem kilometerlangen Strand von St. Peter Ording. Die Fotos in diesem Beitrag sind von Friedrichkoog-Spitze weiter südwestlich. Da kann man weniger gut Strecke machen, dafür aber herrlich herummatschen.
Schööööööööööööööön 🙂
Vorschlag zur Güte: Wenn du mal wieder im Lande bist, schlickern wir gemeinsam durchs Watt… 😉
Klasse!
Danke!
Wie wunderschön in Wort und Bild, ich komme richtig ins Träumen!
Toll, das freut mich sehr, Patricia.
Ach Maren, Du und Deine poetischen Wort-Bild-Verlockungen. Jetzt will ich gleich den Koffer packen können … Wunderbar durchkomponiert – von der motzenden Berlinerin bis zur matschenden Marie (das würde mir auch Spaß machen … klitsch, klitsch…)
Klitsch, klitsch… mir scheint, da haben einige von uns viel inneres Kind ins Erwachsenenleben gerettet, liebe Birgit. Vielleicht machen wir mal einen Gruppenausflug ins Watt? Dank dir auch schön für dein Lob.
So ist es, liebe Maren … und es wäre wirklich schön, mal gemeinsam im Watt zu klischen 🙂
Mein Herz schlägt hoch vor Sehnsucht nach den Weiten des Watts. Deine Texte und Bilder sprechen direkt zu meinem Kinderherz. LG von einem anderen Meer. Gerda
Ein direkter digitaler Draht von Kinderherz zu Kinderherz – wenn das kein feines 3D-Erlebnis ist, liebe Gerda. Vom Nordmeer, das heute nur noch in Gedanken bei mir ist, sende ich herzliche Grüße zu den südlichen Gestaden.
Liebe Maren,
das sind mal wieder ganz phantastische Bilder – ich spüre beim betrachten geradezu den Wind im Gesicht und rieche die salzige Luft. Neptuns Schloss gefällt mir ganz besonders gut, vor allem, weil es auf dem Foto so gut getroffen ist, dass man die wahre Bestimmung des Objektes gar nicht erkennen kann, es vielmehr ganz magisch-mythisch wirkt. – Watt für ein Watt (für der Kölner jetzt sagen)! Dir noch viele schöne nordische Tage und solche farbenfroh-glitzernden Sonnenuntergänge, Claudia
Watt sachste, liebe Claudia? Leider leider bin ich schon längst wieder in der Stadt. Es war dieses Mal nur eine kurze, dafür aber besonders intensive Flucht aufs Land. Dazu hat neben den Reizen des Wattenmeers auch die Reiselektüre beigetragen: „Die große Liebe“ von Hanns-Josef Ortheil, die passenderweise ebenfalls am Meer spielt und die ich sehr empfehlen kann. – Dass man eine Bohrinsel nur vernünftig beleuchten muss, um ihr märchenhaften Glanz zu verleihen, hat mir auch gut gefallen. 🙂
Tolle Bilder, wunderbar erzählt, „Hier ist ja nichts“, von wegen! Das NICHTS hat es in sich!
Dass du weißt, dass dieses NICHTS alles andere als nichts ist, wundert mich nicht, Michael. Ich wünschte, ich könnte malen – in dieser Landschaft, in diesem Licht.
Ich weiß natürlich, was du meinst, ABER: kannst du ja, kannst du ja!!
Da lacht das Fotografinnenherz – danke!
„Hier ist ja nichts“, ja, man muss schon die Augen aufmachen :-); wie immer ein Genuss, deiner Einladung zum Strandbummeln zu folgen. LG, Anna
Das freut mich, Anna. Und sorry für die verzögerte Antwort. Habe gerade erst gemerkt, dass dein Kommentar im Spam-Ordner gelandet war. Die Wege von WP sind gelegentlich wunderlich…
Gestern noch überlegte ich dir eine Mail zu schreiben, weil ich dich vermisste, liebe Maren, aber dann dachte ich, Maren ist bestimmt irgendwo und es ist gut so, wie es ist, keine Sorge… und heute werde ich mit diesem wohltuendem Artikel on dir beschenkt, ich atme aus und freue mich an der Weite. Danke
Wie nett, liebe Ulli. Ist gerade ein bisschen trubelig hier, aber es gibt auch Raum für kleine Auszeiten wie die im und am Watt. Weite und besonders herzliche Grüße zu dir auf den Berg!
Es ist lange her, dass ich im Watt klitschte. Deine kleinen Geschichten, der Morgenstern und der Storm machen mal wieder Lust darauf, liebe Maren. Herzliche Grüße von der Uckermärkischen Seen, wo das Wasser zwar da, aber der Blick nicht ganz so weit ist, Peggy
Ich hatte auch schon eine ganze Weile nicht mehr im Schlick herumgematscht, liebe Peggy und kann ohne Übertreibung sagen: Es macht glücklich. Und hungrig obendrein. Gut, dass die nächste Kohlsuppe, die nächste Fischpfanne nie weit waren. Herzliche Grüße zu dir in die Uckermark!
Aaaah, Friedrichskoog-Spitze. Den Trischendamm habe ich vor genau einem Jahr zum ersten Mal gesehen. Er ist mir unglaublich nachdrücklich im Gedächtnis. Und das Gedicht von Theodor Storm liebe ich auch. Deinen Beitrag lese ich gerade im ultra-heißen Dresden. Was ich für eine Sehnsucht nach dem Norden habe! Liebe Grüße, Stefanie
Soll ich dir was sagen, liebe Stefanie: Mir ist dein Ausflug zum Trischendamm auch noch sehr gut in Erinnerung, genauer: die Fotos, die du von dort mit zurückgebracht hast. Manchmal ist es ja auch schön, wenn etwas noch genauso aussieht wie letztes Jahr… Liebe Grüße aus dem hochsommerlichen Hamburg ins ultra-heiße Dresden – die nächste steife Brise kommt bestimmt!
Ein wundervolles Meertagbilderbuch!!!
Danke dir, Sabine. Gerade versuche ich mir vorzustellen, wie deines aussähe. Es wären sicher ein paar mehr Vögel darin. 🙂
Danke für diesen virtuellen Ausflug ans Meer – es sind wunderschöne Fotos, die meine Sehnsucht wecken…
Das ist fein, Eva. Vielleicht solltest du deiner Sehnsucht einfach folgen, es ist ja gar nicht so weit…
Ganz großartige Bilder zu einem wunderbaren Beitrag komponiert – vielen Dank! (Bei mir ist es jetzt noch eine Woche bis zum Start ans Meer 😉
Es war und ist mir ein Vergnügen, liebe Jutta. Auch wenn du gar nicht im Watt matschen sondern in den Dünen herumspazieren wirst, gefällt mir die Vorstellung, dass du jetzt womöglich noch ein bisschen ungeduldiger mit den Füßen scharrst. Ich wünsch dir eine herrliche Zeit am Meer!
Ich mag Wasser, Steine, deinen Text und diese feinen wunderschönen Bilder!!! Als Schweizer fehlt mir trotz vielen Seen öfters das Meer. Danke fürs zeigen und eine gute Zeit…
Ich danke dir, Ernst – für deinen Besuch und deine netten Zeilen. Freut mich, dass dir das Wattenmeer gefällt, das für einen Schweizer ja schon ein sehr fremder Anblick ist. So wie dir mit dem Meer geht es mir mit den Bergen, aber ich arbeite bereits an einem Wiedersehen…
❤️❤️❤️
🙂 🙂 🙂