Pastorale

In die Lüneburger Heide kam er der Schafe wegen. Mit Schafen hatte er schon immer zu tun, auch daheim im Oberfränkischen. Vielleicht kam er auch, um dem Erzkatholischen zu entfliehen, vor dem ihm bis heute graut. „Wo sind denn all die Menschen vor uns hingegangen, all die Neandertaler und Homo sapiense“, will er wissen, „wo sind denn ihre Seelen geblieben, von denen die Geistlichen immer reden?“ Er für sein Teil glaube ja, dass wir wieder dahin zurückkehren, woher wir gekommen seien – ins Nichts. Das macht ihm ein bisschen Angst, in seinem Alter. Er hat viel Zeit zum Grübeln, manchmal viel zu viel. Dabei sei er eigentlich ziemlich redselig, sagt er, und dass er vielleicht doch Prediger hätte werden sollen.

Der alte Mann ruft seinen Hund. Der ist noch jung, bisweilen übereifrig. Manchmal treibt er die Schafe weiter, während sie einfach nur friedlich grasen sollen. Drei Hunde hat der Schäfer, nimmt aber immer nur einen mit. Die drei zusammen stachelten sich gegenseitig zu sehr auf. „Zu viel Ehrgeiz“, sagt er, „das ist wie bei den Menschen.“ Jetzt muss er aber wirklich weiter, die Herde einholen. Bereits im Gehen, dreht er sich noch einmal um und ruft: „Also, ich wär ja noch zu haben!“ Die Worte kontrastieren mit der wie in Holz geschnitzten Miene.

32 Kommentare zu “Pastorale

  1. Eine wunderbare Geschichte. Ich stelle mir Schäfer – vielleicht, weil sie so viel in der Natur, mit den Tieren und doch alleine sind – immer weise vor. Und Du hast eigens einen gefunden, um mir das zu bestätigen. Danke!

    • Ich schätze, da hast du einige Voraussetzungen benannt, die der Weisheit ziemlich förderlich sind, liebe Birgit. In Spanien war ich vor Jahren mit einem alten Schäfer befreundet, der hatte nie schreiben oder lesen gelernt, aber die Natur, die Tiere und die Menschen (die ja auch nur Tiere sind), die verstand er zu lesen, wie kaum einer.

    • Ein interessanter Gedanke, Ulrike. Dazu hätte ich den Schäfer gerne befragt, bin aber nicht auf die Idee gekommen. Um Munster herum gibt es, soweit ich weiß, ein Rudel mit zwölf, dreizehn Tieren, die immer mal wieder Schafe oder Kühe auf der Weise reißen.

  2. Ob Schäfer als Berufsstand auch im aussterben begriffen sind?
    Du hast einen Schäfer getroffen, der für mich alle meine inneren Bilder zum Schäfertum in einem bestätigt-
    herzliche Grüße
    Ulli

  3. Wäre ich nicht Kormoran geworden wäre ich wahrscheinlich Schäfer. Hunde und Schafe mag ich sehr, obwohl mir als Kind die Ziegen beim hüten nicht besonders gehorchten. Grüsse von der Stadt

  4. Schäfer – ein schwerer Beruf, allzu einsam.
    Ich habe hier einen Bekannten, nach 25 Jahren hat er seine Herde verkauft, der Kral steht nun leer. Er ist sehr froh, endlich wieder unter Menschen zu sein, zieht sich gern sauber an, trinkt ein Gläschen mit Freunden und fühlt sich wieder wie ein Mensch, So sagte er mir.

    • Ja, man muss schon Freude am Alleinsein haben, wenn man Schäfer sein will, keine Frage. Allerdings ist ja nicht jeder Schäfer über längere Zeit fern der Menschheit. In Spanien kannte ich zum Beispiel zwei alte Schäfer, die tagsüber mit ihren Herden unterwegs waren, die man aber abends oft in der Taverne traf, wo sie ihren Tee (mit Schuss natürlich) genossen.

  5. Wie berührend … meine immerwährende Gretchenfrage : wie hältst du es mit der Einsamkeit des Schäferlebens. Die Frage hätte ich mir in jüngeren Jahren gerne einmal beantwortet.

    Liebe Grüße

    Achim

    • Falls die Frage auch an mich gerichtet war, Achim: Ich spiele noch heute gelegentlich mit dem Gedanken, sie mir zu beantworten – allerdings nur auf Zeit. 🙂

  6. Vielen Dank, liebe Maren, für diesen wunderbaren Bericht von einer kurzen, aber sehr intensiven Begegnung !
    Mich beeindruckt, wie klar und unabhängig dieser Schäfer denkt und spricht. Die andere Seite der (oben angesprochenen) Einsamkeit ist wohl auch die Freiheit – und umgekehrt. Das kann sicher nicht jeder aushalten – aber dieser Schäfer kann es und hat offensichtlich Freude daran. Und zeigt sich zum Abschied noch von seiner schelmischen Seite – einfach entzückend.
    Ein schöner Text mit ausdrucksvollen Bildern und eine Einladung zum Nachdenken. Oder auch Träumen.

    • Ich erinnere mich an einen alten Song von Mario Hené. „Einsamkeit ist der Preis meiner Freiheit“, sang er darin. – Interessant, dass du den Schäfer als schelmisch empfunden hast, Elisabeth. Zu wünschen ist es ihm jedenfalls. Danke für dein Feedback.

  7. All die Homo sapiense 🙂 – das ist ja schon ein richtiger Buchtitel. Tolles Bild von dem Herrn; der hat aber auch ein Gesicht!

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