Im Garten der Steine

Weit öffnet sich der Blick ins Auetal. Die Hand streicht über einen braunfleckigen Granit. Sagenhafte 1.650 Millionen Jahre hat der auf dem Buckel. Der steinerne Methusalem ist einer von 170 Findlingen, die vor Tausenden von Jahren mit den Gletschern der Eiszeit aus Skandinavien an die Elbe geschoben wurden und nun im Garten der Steine im niedersächsischen Harsefeld Zeugnis ablegen von der Entstehung der Geestlandschaft, von der Gesteinsbildung der Erde, von der Geschichte unserer Kultur.

Die Findlinge sind kreisförmig bestimmten Themen zugeordnet und mit Schautafeln versehen. Die wohl spannendste von allen lädt zu einer ganz besonderen Zeitreise ein: „Die Erdgeschichte in einem Jahr“. Um schier unvorstellbare Jahrmillionen wenigstens in ein fassbares Verhältnis zueinander zu setzen, wird die Erdgeschichte in den Zeitraum eines einzigen Jahres gepresst: „Vom 1. Januar bis in den April hinein gibt es noch keinerlei Leben auf der Erde. Danach entwickeln sich die Einzeller, aus denen bis Anfang Oktober vielzellige Lebewesen entstehen. … Am 25. November erscheinen die ersten Wirbeltiere auf der Erde, und immer noch gibt es Leben nur im Meer. Doch einige Tage später, Anfang Dezember, beginnen zunächst die Pflanzen, dann auch die Tiere, das feste Land zu erobern. … In den folgenden zwei Wochen beginnt die Herrschaft der Saurier. … In diesen 14 Tagen treten auch die ersten Säugetiere und die Urvögel in Erscheinung. In der letzten Woche des Dezember entwickeln sich die Blütenpflanzen, und die Säuger breiten sich über die ganze Erde aus. Es ist die Zeit, in der die Alpen und andere Hochgebirge entstehen. … Schon bricht der 31. Dezember an, der Silvestertag, und wir sind immer noch erst im Tertiär. Wenn am Abend mit dem Beginn des Quartärs die Eiszeit einsetzt, treten bald auch die ersten Urmenschen auf. In wenigen Stunden wechseln nun Kalt- und Warmzeiten der Eiszeit einander ab. Um 23 Uhr entdecken die Frühmenschen die Kraft des Feuers. Um 23:55 Uhr malen die Eiszeitmenschen ihre Höhlenbilder und jagen den Höhlenbär und das Mammut. 70 Sekunden vor Mitternacht endet die Eiszeit und beginnt unsere erdgeschichtliche Gegenwart. 30 Sekunden vor Mitternacht werden die Pyramiden in Ägypten gebaut. … Und mit dem ersten Schlag der Neujahrsglocken hat unser drittes Jahrtausend begonnen.“

Von Findlingskreis zu Findlingskreis, von Themenkreis zu Themenkreis führt der Weg. Die Finger gleiten wie von selbst durch Rillen, tasten Ausbuchtungen ab. Manche Steine haben eine glatt geschliffene Oberfläche, andere sind porös, weisen Körnungen auf, Ringe, Einkerbungen, Schrammen, Pocken und Poren, wieder andere fühlen sich samtweich an. Einige sind matt, andere glitzern, glänzen und schimmern mit der diesigen Wintersonne um die Wette, gelb-orange, rot, grau-beige, braun und ocker. Ein Granit mit großen Feldspataugen in perfekter Sitzhöhe lädt für einen Moment zum Verweilen ein. Ein Stück weiter liegt ein Sandstein, nur wenige Zehntausend Jahre alt, ein richtiges Baby noch.

Orientierungshilfe

Hamburg hat über 2500 Brücken. Mehr als Venedig und Amsterdam zusammen, sagt das städtische Marketing. Sechs von ihnen will ich euch kurz vorstellen. Besonders schön sind sie nicht, aber… nun ja: besonders. Als erstes fiel mir die Braune Brücke auf. Da hatte ich die Grüne schon ungezählte Male passiert, auf dem Weg in die Vier- und Marschlande, Hamburgs Gemüsegarten. Und auch die Schwarze unmittelbar vor den Elbbrücken. Nur eben nicht mit Bewusstsein.

Die Braune Brücke nahm ich wahr. Sie verbindet die alten Arbeiterviertel Hamm im Norden und Rothenburgsort im Süden. Und sie führt mitten hinein in ein kleines Paradies, über das ich hier schon geschwärmt habe. Mein liebstes Hausboot, lila und wunderbar nostalgisch, liegt nur einen Steinwurf entfernt. Und auch sonst war neulich, als die Sonne überraschend kräftig vom blauen Himmel lachte, einiges los an der Bille. Aber das ist eine andere Geschichte.

Hier geht es um die sechs farbigen Brücken, die den Nebenfluss der Elbe in seinem schiffbaren Unterlauf überspannen: rot, gelb und blau, braun, grün und schwarz. Die erste und zugleich älteste ist die Rote Brücke, die tatsächlich eher rosa ist, unterhalb von Kirchsteinbek. Über die Gelbe und die Blaue Brücke erreicht man Billbrook mit seinen vielen kaum noch befahrenen Kanälen – eine der größten Industrieflächen Hamburgs, auf der aber auch so wunderbare Zeitzeugen wie das Kaiserliche Postamt nahe der Roten und das Alte Metallwalzwerk nahe der Gelben Brücke überlebt haben.

Was es mit der Farbenlehre auf sich hat? Nun, man wollte den vielen ausländischen Arbeitern, die schon im 19. Jahrhundert in Hamburg lebten, die Orientierung erleichtern und strich die Geländer und  – bei dem Verkehr, der früher auf der Bille und den Kanälen herrschte, vielleicht noch wichtiger – auch die Unterseiten der Brücken in verschiedenen Farben an.

Eine schöne Vorstellung, dass „Brücke“ zu den ersten Worten gehört haben mag, die ein Fremder einst in Hamburg lernte!

P.S. Die ganz oben abgebildete blaue Brücke ist übrigens nur eine blaue Brücke über die Bille, verwirrenderweise angesiedelt zwischen der Roten und der Gelben, aber sie ist mit ihrem Bogen einfach schöner als die Blaue, die man stromabwärts im Anschluss an die Gelbe passiert. Noch Fragen?

Zweierlei Maß

p1170756Dass ein Seemann zwar kein Kind von Trrrraurigkeit, aber kaum für die Trrrreue gemacht ist, wissen wir spätestens, seit Hans Albers La Paloma, die Taube, besang:

Auf, Matrrrrosen, ohé! / Einmal muss es vorbei sein / Nur Erinnerung an Stunden der Liebe / Bleibt noch an Land zurück. / Seemanns Brrrraut ist die See / Und nur ihr kann er trrrreu sein…

Für die zwischenmenschliche Treue war, wenn überhaupt, die Braut an Land zuständig. Auf die Treueste unter den Treuen stieß ich kürzlich vor dem Haus der Schiffszimmerer-Genossenschaft in Hamburg-Winterhude. Die namenlose Kaufmannstochter hatte sich in alten Zeiten einem jungen Schiffszimmerer versprochen, wie es so schön heißt. Ihr Vater wollte die Ehe jedoch erst zulassen, wenn der Bräutigam sich auf See bewährt hatte. Es kam, wie es kommen musste: Gleich auf seiner ersten Fahrt fand der junge Mann den Seemannstod. Seine Braut blieb ihm treu und starb als Jungfrau. Ihr zu Ehren brachten die Schiffszimmerer ihr Standbild an einem Haus in der Hamburger Speicherstadt an und schmückten es mit einem Kranz, wenn sie mit festlichen Reden der Jungfrau und ihres Verlobten gedachten. 1684 wurde das Kranzhaus durch Feuer zerstört. Ein Jahr später errichtete es das Schiffbauamt neu. 1888 musste es Hamburgs Zollanschluss an das Deutsche Reich weichen. 1930 schließlich baute die Schiffszimmerer-Genossenschaft das Haus in der Großheidestraße in Winterhude. Die Kaufmannstochter, ein Schiffsmodell fest in beiden Händen, scheint von ihrem luftigen Ausguck noch heute nach dem toten Liebsten Ausschau zu halten.

p1170758Auf meinem Spaziergang traf ich übrigens nicht nur die treue Seemannsbraut sondern im benachbarten Barmbek außerdem noch eine „Träumende“ (vor der Baugenossenschaft Dennerstraße)…

p1170764… sowie zwei „Terracottajungfrauen“ (am Eingang zum Daniel-Bartels-Hof). Alle vier waren meiner Aufmerksamkeit bis dahin total entgangen.

p1170772Bei so viel holder Weiblichkeit war ich wirklich froh, am Ende, schon an der Grenze zum Stadtteil Dulsberg, auch noch auf das passende Mannsbild zu stoßen: einen waschechten Schiffszimmerer vor dem Heinrich-Groß-Hof am Pinelsweg.

Frost is in the air

P1000259Und schon liegt der alte Wasserturm nicht mehr im Sternschanzenpark sondern in einem Zauberwald. Dabei ist die Geschichte dieses Ortes wenig idyllisch. Noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Grünanlage Teil der Hamburger Stadtbefestigung. Als Sternschanze bezeichnete man Verteidigungsbauten in Form von mehrzackigen Sternen außerhalb der eigentlichen Stadtmauern. 1866 baute die Altona-Kieler-Eisenbahn-Gesellschaft südlich der Sternschanze eine Verbindung zwischen der damaligen Stadt Altona und den Hamburger Bahnhöfen.  Dadurch wurde der heutige Park vom Rest der Wallanlagen abgetrennt und schließlich als öffentliche Grünanlage zugänglich gemacht. Der backsteinerne Turm auf dem Hügel im Park entstand Anfang des 20. Jahrhunderts und war einmal Europas größter Wasserturm. Ziemlich genau hundert Jahre nach seiner Errichtung wurde er zum Sterne-Hotel, was eine Menge Proteste unter den Bewohnern der Schanze auslöste. Wie gesagt: Idyllisch ist sie nicht, die Vergangenheit dieses sehr lebendigen und bisweilen sogar zauberischen Ortes mitten in der Stadt.

Basislager am Grenzstein

p1150381Ich habe schon einige Berge bestiegen. Auch ein paar Viertausender waren dabei. Aber auf dem höchsten Gipfel von Wo-auch-immer hatte ich noch nie gestanden. Dabei liegt einer gleich vor der Haustür. Der Hasselbrack, die höchste natürliche Erhebung Hamburgs, ist nicht gerade ein K2, zugegeben, eher so eine Art H null mit seinen gerade einmal 116 Metern über dem Meeresspiegel. Aber er hat es in sich. Dieser Berg könnte mein Ithaka werden, dachte ich einen flüchtigen Moment lang, als ich zum zweiten Mal die Asphaltstraße entlang fuhr, die sich endlos und schnurgerade durch das Wohngebiet im äußersten Südwesten der Stadt zieht.

„…Und immer habe Ithaka vor deinem Geist. / Dort anzukommen ist deine Bestimmung. / Doch sollst du die Reise ja nicht übereilen. / Es ist viel besser, sie dauert viele Jahre, / so dass du nunmehr alt geworden auf der Insel anlegst, / reich an alldem, was du unterwegs gewonnen, / ohne zu hoffen, dass dir Ithaka Reichtümer schenkt…“

Konstantinos P. Kavafis (1863 – 1933), griechischer Dichter

Ich weiß, ich übertreibe maßlos. Aber wer hätte auch ahnen können, dass die größte Schwierigkeit darin bestehen würde, den Berg überhaupt zu finden? Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Gipfelversuch im Grenzgebiet zwischen Hamburg und Niedersachsen, das „vom Höhenzug der Harburger und Schwarzen Berge mit ihren steilen Anstiegen, weiten Ausblicken und tief eingeschnittenen Tälern“ geprägt wird, wie dem Wanderer auf einer Infotafel am Tor zu Hamburgs „Hoch im Süden“ verheißen wird.

Bis zum Moisburger Stein, der letzten verbliebenen Grenzmarkierung aus uralten Zeiten, war ich gut vorangekommen. Zuerst mit der S-Bahn bis zur Station Neugraben, dann mit dem Bus der Linie 240 bis zur Endstation Waldfrieden. Dass ich mich einer Gegend näherte, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, hatte sich beim Lesen der Straßennamen zur Linken und Rechten der endlosen Asphalttrasse bereits angekündigt: neben Heidrand, Waldschlucht und Quellgrund freute ich mich über den Kiepenkerlsweg – und ganz besonders über Lüttmattensteed, eine Reminiszenz an den kleinen Hasen Martin (Lütt Matten), der so gerne tanzte, dass er sogar Reineke Fuchs (Reinke Voss) die Hand reichte. Ein tödlicher Fehler, wie man in dem plattdeutschen Gedicht „Matten Has“ des Dithmarscher Lyrikers und Schriftstellers Klaus Groth nachlesen kann.

Am „Waldfrieden“ warf ich noch rasch einen Blick auf die Infotafel, auf der neben den Zeilen über die wilde Bergwelt auch eine Karte vom Regionalpark Rosengarten prangt. Dann lief ich hinein in den Wald, ignorierte Wegweiser nach links Richtung Kiekeberg-Museum und Wildpark Schwarze Berge und erreichte keinen Kilometer, nachdem ich aus dem Bus gestiegen war, den Moisburger Stein.

p1130673Seit 1750 markiert er die Grenze zwischen Harburg (Hamburg) und Moisburg (Niedersachsen). Davon erzählen die in den Stein gemeißelten römischen Ziffern und die Initialen von König Georg II., damals König von Großbritannien und Irland und Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg. Und das Symbol der Wolfsangel natürlich. In Stein gehauen kennzeichnete es bereits Anfang des 17. Jahrhunderts die Grenze zwischen Braunschweig-Lüneburg und Hessen. Später wurden Wolfsangeln auch direkt mit dem Reißhaken in die Rinde von Bäumen gerissen, um Forstreviere abzustecken.

Der Moisburger Stein ist der letzte von fast 900 Grenzsteinen, die einst den königlichen Forst vom Bauernwald trennten. Schade. Die Steine wären ein schöner Wegweiser zum Gipfel gewesen, der – wie ich gelesen hatte – nur wenige Meter neben der Grenze liegt. Wegweiser gibt es in der Gegend viele: zum Kiekeberg und zum Moisburger Stein, zur Schulenburgseiche und zur Großmoddereiche, nur nicht zum Hasselbrack. Natürlich könnte man GPS benutzen, aber ohne kam ich mir irgendwie zünftiger vor. Keine Sorge, ich bemühe jetzt nicht den Vergleich zur Bezwingung eines Achttausenders ohne zusätzlichen Sauerstoff…

Der vage Grenzverlauf in meinem Kopf führte nicht nur nach Süden, sondern auch ein Stück nach Westen. Das hieß, ich musste irgendwo rechts abbiegen. Aber wo genau? Um es kurz zu machen: Ich probierte jeden Abzweig, jeden Pfad nach rechts, ich stieg auf jede Anhöhe. Die auf der Infotafel angeführten „weiten Ausblicke“ suchte ich vergeblich. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass das Überschreiten der Baumgrenze seine Vorteile hat. Mount Hasselbrack kümmerte das wenig, er hielt sich bedeckt.

Man hätte darauf kommen können, bei dem Namen. „Brack“ ist die plattdeutsche Bezeichnung für eine tiefe Kuhle, die durch einen Deichbruch infolge einer Sturmflut entstanden ist, also nichts anderes als ein See oder Teich. Und „Hassel“ leitet sich von Haselstrauch ab. Wieviel Größe und Majestät ist von einem Berg zu erwarten, der „Haselstrauch an der Wasserkuhle“ heißt?

p1130751Als ich in einen besonders modderigen Waldweg einbog, an dessen sichtbarem Ende es sanft bergauf ging, wähnte ich mich schon fast am Ziel. Aber wieder Fehlanzeige. Ich fragte walkende Menschen, die irgendwie einheimisch aussahen, ob sie sich in der Gegend auskennen. Ein bisschen, erwiderten sie mit hanseatischem Understatement. Vor allem die Männer freuten sich sichtbar, einer verirrten Spaziergängerin weiterhelfen zu können. Aber auch sie mussten passen, vom Hasselbrack hatten sie nie gehört, zückten hilfsbereit das Handy… kein Empfang. Das war mir auch schon so gegangen. Es folgten aufmunternde Worte und die Ermahnung, doch unbedingt auf den Weg zu achten: Man könne sich hier leicht verlaufen… Ach was!

Zum Glück hatte ich Wasser und Müsliriegel dabei. Nach ein paar Stunden fröhlichen Herumstreifens und der Bekanntschaft mit Dutzenden wunderschöner Hohlwege sank die Sonne merklich und ich beschloss, die Expedition an einem anderen Tag fortzusetzen. Wie viele Bergsteiger sind schließlich wieder und wieder ins Basislager des Mount Everest zurückgekehrt?

p1130671Ich kehrte zum Moisburger Stein zurück, meinem Basislager am Mount Hasselbrack. Auf der Infotafel hatte ich noch einmal den Grenzverlauf im Kopf mit dem auf der Karte verglichen – und probierte es zur Abwechslung mit Linksabbiegen. Was ich beibehielt, war die Strategie von der rechten Seite, dem einmal eingeschlagenen Weg eine Weile zu folgen. „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.” Samuel Beckett hätte mich verstanden, glaube ich.

Der neue Weg ließ sich gut an: Matsch und Baumwurzeln stellten die Trittsicherheit sofort auf die Probe, während eine lange sanfte Steigung dem Körper Gelegenheit bot, sich allmählich an die Höhe zu gewöhnen. Dazu der Gesang der Vögel und der würzig-schwere Geruch von Mischwald nach ausgiebigem Regen. Nun schon gut akklimatisiert, fielen auch einzelne Steilpassagen nicht schwer. Steil, naja… so steil eben, wie das in einer Gegend möglich ist, in der die Todeszone bei hundert Metern über Normalnull beginnt.

p1130800Was soll ich sagen: Der Weg ließ sich nicht nur gut an, er hielt auch, was er versprochen hatte. Vielleicht eine halbe Stunde nach Verlassen des Basislagers erblickte ich auf einer Anhöhe ein richtiges Gipfelkreuz, wie man es aus der alpinen Bergwelt kennt. Und gleich daneben einen Findling, der auf Hamburgs höchsten Punkt verweist. In den weichen Waldboden daneben ist eine Kiste aus Blech eingelassen, in der sich neben allerlei Andenken und Devotionalien auch ein ordentliches Gipfelbuch befindet.

p1150360Auf der anderen Seite des Ensembles schmiegt sich eine alte Buche an den Hang (sie ist auf dem Bild ganz oben zu sehen) und entzieht sich so dem Sog der Tiefe. Aus der waren gerade zwei Mountainbiker in die Höhe gestrampelt. „Hard Rock Cafe“ las ich auf dem Shirt des einen, „High Performance“ auf dem des anderen. Ausdenken kann man sich so etwas nicht.

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Eingewandert

Eine richtig lange hanseatische Familientradition könne er nicht vorweisen, sagte Herr M. bei unserem ersten biografischen Gespräch. Die Mutter des Kaufmanns stammt aus Lettland, ihre Vorfahren sind Letten und Litauer. Die Familie des Vaters kommt ursprünglich aus dem Mecklenburgischen.

1862 legte der damals 28-jährige Urgroßvater in Hamburg den Bürgereid ab:

„Ich gelobe und schwöre zu Gott, dem Allmächtigen, daß ich der Freien und Hansestadt Hamburg und dem Senat treu und hold seyn, das Beste der Stadt suchen und Schaden von ihr abwenden will, soviel ich vermag; daß ich die Verfassung und die Gesetze gewissenhaft beobachten, alle Steuern und Abgaben, wie sie jetzt bestehen und künftig zwischen dem Senat und der Bürgerschaft vereinbart werden, redlich und unweigerlich entrichten, und dabei, als ein rechtschaffener Mann, niemals meinen Vortheil zum Schaden der Stadt suchen will. So wahr mir Gott helfe!“

In der „Vorschrift für diejenigen die das Bürgerrecht nachsuchen“, einem drei Seiten langen Formular, wurde er unter anderem gefragt, „warum er seinen Geburtsort verlassen“. Handschriftlich trug der Urgroßvater ein: „Weil ich dachte mein Glück hier zu machen.“

Jagdgötter unter sich

P1100866Neulich wieder einmal auf dem Weg zur Trinkhalle im Hamburger Stadtpark. Es gibt dort den womöglich besten Kaffee der Stadt. Allerdings ginge ich wohl auch, wenn es nur der zweitbeste wäre. Das liegt auch am Namen: Trinkhalle. Das Wort gefällt mir seit der ersten Fühlungnahme. Schnörkellos und direkt und ein klein wenig verrucht. Als ich ihm zum ersten Mal begegnete, entstanden vor meinen norddeutsch-ländlich geprägten geistigen Augen die tollsten Bilder. Zu dem, was ich realiter erblickte, wollten sie nur begrenzt passen. T-R-I-N-K-H-A-L-L-E: Die riesigen Leuchtbuchstaben an dem Eckgebäude gegenüber von meiner ersten Hamburger Wohnung füllten die komplette Breite der „Halle“ aus, die auch nur unwesentlich tiefer war.

Bis dahin waren diese Miniatur-Verkaufsstellen für Zeitungen, Tabak, allerlei alkoholische und nichtalkoholische Getränke, belegte Brötchen, Süßigkeiten und Schreibwaren für mich Kioske gewesen. Ich lernte, dass es außerdem Buden, Büdchen und Wasserhäuschen gibt, vor denen sich die Stammkunden gern auf das ein oder andere Feierabendbier einfinden. Schon lustig, denn ursprünglich waren all diese Trinkhallen (und auch die Kaffeeklappen, von denen ich hier schon erzählt habe) ja gerade erfunden worden, damit Bergleute, Industrie- und Hafenarbeiter Mineralwasser (und Kaffee) statt Bier und Schnaps tranken.

Bis ich das erste Mal so eine Trinkhalle wie die im Stadtpark kennenlernte, sollten weitere Jahre ins Land gehen. Sie ist nämlich weder Kiosk noch Büdchen sondern ein ehemaliger Gesundbrunnen, wie man sie in Heilbädern findet. Denen galt, ich gebe es unumwunden zu, in jüngeren Jahren nicht gerade mein Hauptaugenmerk. Im Grunde kann ich immer noch nicht viel Erhellendes zum Thema beisteuern. Außer ein bisschen von der backsteinernen Trinkhalle im Stadtpark schwärmen. Die ist nämlich richtig schön.

P1100863Errichtet wurde die Halle mit ihrem kreisrunden Mittelbau und den zwei kurzen Flügeln 1915/16 nach Plänen von Oberbaudirektor Fritz Schumacher, dessen Backsteinarchitektur das Stadtbild bis heute prägt. Als Ausschankhalle für Heilwasser sollte sie der Gesundheit der Arbeiterfamilien in den nahe gelegenen Stadtteilen Barmbek und Winterhude dienen, die sich den Besuch eines Kurbads nicht leisten konnten. Besucher der Trinkhalle hatten die Auswahl aus 50 Heilwässern und dazu ausgewiesenen Spazierwegen im Stadtpark.

P1070506Heute kann man in dem originalgetreu restaurierten Bau unter anderem Hamburgs ziemlich besten Kaffee genießen, während der Blick weit über eine langgestreckte Rasenfläche schweift, bis er ganz am Ende auf die Skulptur „Diana mit Hunden“ trifft …

P1100803 … oder vielleicht auch schon vorher auf irgendeinen anderen Jagdgott.

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Zwischen Brut und Brunft

P1040657Stadtmauern gibt es in Hamburg schon lange nicht mehr, und der alte Grenzwall entlang der heutigen Landesgrenze zu Schleswig-Holstein führt als von Birken und Erlen gesäumter Trampelpfad quer durch den Duvenstedter Brook. Was da genau abgegrenzt wurde, habe ich bisher nicht herausfinden können. Das bis 1864 dänische Herzogtum Holstein? Wohl kaum. Hamburg kaufte erst 1925 große Teile des Brooks, der damals noch im Kreis Stormarn lag. Der Rest gelangte mit dem Groß-Hamburg-Gesetz 1937 an die Hansestadt. Wer weiß, womöglich diente der Grenzwall lediglich dazu, die Besitztümer zweier Dörfer zu markieren, und Kühe trotteten darauf von einer Wiese zur nächsten. Mehrere hundert Jahre lang war der Brook von den Bauern der Dörfer Duvenstedt und Lemsahl-Mellingstedt als Viehweide und zum Torfstich genutzt worden.

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P1040591Ab März ist der idyllische Wall für Spaziergänger gesperrt, weil drumherum Kraniche und Graureiher brüten. In diesen Wochen gehört er den Hirschen: In der Dämmerung und während der Nacht zerreißt das Röhren der Rot-, ab Oktober auch der Damhirsche jäh die Stille über den angrenzenden Wiesen, auf denen friedlich die Hirschkühe äsen, und Geweihstangen krachen gegen Geweihstangen. Ein Spektakel, das jedes Jahr unzählige Besucher zu den Beobachtungsständen des NABU lockt. Das Rotwild stammt übrigens von Tieren aus den Karpaten ab, die der Nazi-Gauleiter Karl Kaufmann Ende der 1930er Jahre einführen ließ, um sie nach Art der früheren Feudalherren mit seinen Gästen abzuschießen.

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P1040724Vor ein paar Tagen, quasi zwischen Brut und Brunft, habe ich eine Verabredung in der Gegend zu einem kleinen Abstecher genutzt. Von gelegentlichem Flugverkehr abgesehen, lag tiefer Friede über diesem Grenzgebiet zwischen Wald und Moor. Der vielleicht schönste Pfad durch den an reizvollen Wegen bestimmt nicht armen Duvenstedter Brook führt am Hexenstein vorbei, einem angeblichen ehemaligen Hinrichtungsplatz, und endet am Professormoor, das allerdings nicht nach einem Universitätsgelehrten, sondern nach einem „Profos“ benannt ist, der dort seinen Torf gestochen haben soll, einem für die Strafvollstreckung zuständigen Militärbeamten. Schönheit und Schrecken liegen gelegentlich nah beieinander.

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Von Herzen und Fischen

Seit Jahren verschandeln auch in Hamburg Massen von Vorhängeschlössern ganze Brücken in dem untauglichen Bemühen, der Liebe Dauer zu verleihen, indem man sie in Ketten legt. In Paris brach unter der Last der „Liebesschlösser“ (was für ein Wort!) jüngst sogar ein Teil des Geländers auf der Fußgängerbrücke Pont des Arts zusammen. Wie leicht nimmt sich dagegen das Geländer der Brücke über den Isebekkanal am Eppendorfer Baum aus. Fische schweben zwischen schmiedeeisernen Wellenlinien, dass man meint, sie könnten fliegen. Geschaffen hat sie um 1927 herum der Maler und Bildhauer Richard Haizmann.

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Im Auftrag des Hamburger Senats fertigte Haizmann später auch noch eine Brunnenfigur für den Kinderspielplatz an der Humboldtstraße: einen großen bronzenen Wasserspeier, nicht Mensch, nicht Tier, ein sprühendes Fabelwesen, das die Kinder begeisterte, aber die Gemüter nicht nur einiger Stadtväter von Anfang an erregte. 1937 wurde der Wasserspeier schließlich wieder abmontiert, in der NS-Wanderausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt und danach vermutlich eingeschmolzen. Seit 1994 steht eine Rekonstruktion des Werks am Rande des Kinderplanschbeckens im Stadtpark. In diesen Tagen ist es umgeben von Sandbergen und Beton: Der Stadtpark macht sich hübsch für seinen 100. Geburtstag Anfang Juli.

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Die Fische an der Eppendorfer Brücke wurden übrigens vor ein paar Jahren von Hamburger Schulkindern bemalt. Auch wenn der Lack inzwischen schon ein bisschen ab ist: Mir gefällt’s, gerade auch eingedenk der Geschichte von Haizmanns Wasserspeier.

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Wir nennen es Heimat

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Vor ein paar Tagen las ich in der Zeitung, dass Hamburgs schrägste Kneipe weiterhin ums Überleben kämpft. Orkantief Xaver und die Sturmfluten in seinem Gefolge hatten die ehemalige Kaffeeklappe unter der Oberhafenbrücke Anfang Dezember bis zu den Fenstern im Erdgeschoss unter Wasser gesetzt und das Mauerwerk stark beschädigt. Das Gebäude wurde zwar inzwischen entkernt, aber die Überprüfung der Standfestigkeit steht noch aus. Das alles geschieht nicht zum ersten Mal. Und das macht beim Daumendrücken für die baldige Wiedereröffnung dieses ganz speziellen Orts in der heutigen HafenCity auch irgendwie Hoffnung. Wie heißt es so schön: Totgesagte leben länger.

P1040871Die Oberhafen-Kantine wurde 1925 als sogenannte Kaffeeklappe gebaut. So bezeichnete man seit Mitte des 19. Jahrhunderts einfache Speiselokale, in denen keine alkoholischen Getränke ausgeschenkt wurden. Um den seinerzeit offenbar übermäßigen Schnapskonsum unter der arbeitenden Bevölkerung zu bekämpfen, wurde neben deftiger Hausmannskost vor allem Kaffee von der Küche durch eine Klappe direkt in den Gastraum gereicht, daher der Name. Im Hamburger Hafen gab es mal zwanzig solcher Lokale. Inzwischen ist nur noch die Oberhafen-Kantine übrig, ein Häuschen im schönsten Backsteinexpressionismus mit einer Grundfläche von nicht einmal 25 Quadratmetern und einem turmartigen Staffelgeschoss, das ursprünglich als Lagerraum diente. Unmittelbar darüber rauschen Regional- und Fernbahnen von und nach dem nahen Hauptbahnhof.

P1040888Da das Gebäude direkt an der Kaikante des Oberhafens steht, wurde es von Gezeiten und Sturmfluten unterspült, sackte ab und wurde mit der Zeit immer schiefer. So scheef, as den Schipper sin Been, wie es in dem Song vom Hamburger Veermaster heißt. Da fällt man im Wortsinn mit der Tür ins Haus. Oder war es umgekehrt: nach dem Besuch hinaus auf die Straße? Suppe und Getränke haben jedenfalls ordentlich Schlagseite in den Tellern und Gläsern der Oberhafen-Kantine. Irgendjemand hat einmal einen Neigungswinkel von 8,7 Grad gemessen. Sensibleren Gästen kreiselt es vor allem auf dem Oberdeck schon mal in Kopf und Magen, auch ohne das winzigste Promillchen Alkohol im Blut. Der gehört natürlich längst zum Repertoire des traditionsreichen Ausschanks.

P1040884Ach, könnten die alten Mauern erzählen, was sie im Laufe der Jahre alles gesehen haben… Als Erstes würden sie sicher von Anita Haendel sprechen. Anita war die Tochter von Hermann Sparr, der die Oberhafen-Kantine 1925 bauen ließ. Er nahm die damals 12-Jährige von der Schule, damit sie in der Küche half. Daraus wurden 72 Jahre, in denen der Betrieb nicht ein einziges Mal unterbrochen war. Bis zum Schluss stand Anita selbst in der Küche. In einer Reportage in der Hamburger Morgenpost offenbarte die Seele der Oberhafen-Kantine 1996 ihr Selbstverständnis: „Seit 70 Jahren wissen die Ladearbeiter, dass es hier morgens um fünf frischen Kaffee gibt und Frikadellen und auch ein’n Lütten fürs Ende der Nachtschicht. Und was 70 Jahre läuft, muss auch das 71. hinhauen.“ 1997, einen Tag vor ihrem 84. Geburtstag, starb Anita Haendel. Das ist geradezu biblisch: Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.

Nach Anita Haendels Tod stand die Kantine leer, musste schon bald wegen Einsturzgefahr geschlossen werden. Jahre später wurde das Haus renoviert und an den Fernseh-Koch Tim Mälzer und seine Mutter Christa verpachtet, die den Imbiss 2006 mit traditioneller Hausmannskost wieder eröffnete. Nachdem eine Sturmflut das Gebäude nur eineinhalb Jahre später erneut erheblich beschädigt hatte und es abermals saniert werden musste, beschlossen die Mälzers, das Lokal aufzugeben.

P1040883Vor ein paar Wochen stand der Oberhafen-Kantine das Wasser wieder einmal bis zum Hals, aber die jetzigen Betreiber wollen kämpfen. Das Inventar immerhin konnten sie retten. Und sie haben ein provisorisches Quartier im Kontorhaus am Brandshofer Deich eröffnet, wo sie sich und die alte Kaffeeklappe mit verschiedenen Sonderveranstaltungen über Wasser zu halten versuchen, bis sie – hoffentlich – im Frühjahr an den Oberhafen zurückkehren können.

Ich glaube, das wird klappen. Um den Spruch mit den Totgesagten Mantra-artig noch einmal auf Englisch zu murmeln – immerhin hat die Institution Kaffeeklappe ihren Ursprung in London: There’s life in the old dog yet. Auf der Website der Oberhafen-Kantine lese ich denselben Gedanken in ein paar mehr Worten: „Das Häuschen blieb stehen und steht da immer noch: schief, aber aufrecht. Das ist ein bisschen überraschend. Von mehr als 20 Kaffeeklappen, die es einst im Hamburger Hafen gab, ist es die letzte. Schwein gehabt. Offenbar stand diese keinem Wirtschaftspolitiker oder Investor im Weg, die sich mit einem Häuschen, in dem seit 1925 Kaffee und Frikadellen serviert werden, erfahrungsgemäß nicht lange aufhalten. Und so werden hier immer noch Kaffee und Frikadellen serviert. Das ist eigentlich keine große Sache und trotzdem irgendwie tröstlich. Ein schönes Gefühl. Wir nennen es: Heimat.“

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