Juans fliegende Fische

Ich ging dann doch noch weiter: vom Ende der Welt nach Norden, die Costa da Morte zur Linken. Wie liebe ich Raúls eigenwillige Erklärung für den Namen des Küstenstreifens im äußersten Nordwesten der iberischen Halbinsel. „Todesküste“ habe man ihn nicht etwa wegen der vielen Seefahrer genannt, die in der rauen See und an den Klippen ihr Leben ließen. Ach, staunte ich zwischen zwei Bissen Toastbrot. Sondern? Na, weil doch Abend für Abend die Sonne über dem Meer starb… Irgendwo in Raúls Genen muss ein Rest des Sonnenkults überlebt haben, der in der Gegend unter Kelten wie Römern so viele Anhänger hatte. Heilige Steine wie der Ara Solis, der „Sonnenaltar“ auf dem Monte Facho oberhalb des Leuchtturms von Kap Finisterre erinnern bis heute daran.

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Nur noch ein paar Kilometer sind es bis Muxía. Wie verlockend der kleine Pfad aussieht. Bloß weg von der Straße! Hinein in die Büsche, bis es gar keinen Weg mehr gibt. Zuletzt folge ich Hufspuren in der Annahme, dass die Pferde einen Reiter getragen haben, aber die Tiere sind offenbar frei herumgelaufen. Die Spuren enden an einem kleinen Wasserlauf. Egal. Das Meer und die Straße sind ja weiterhin zu hören, geben Orientierung. Der alte Mann in den Dünen staunt nicht schlecht, als ich aus dem Dickicht breche. Meine Frage, ob ich wohl nach Belieben zur Straße hinaufklettern könne, bejaht er grinsend. Wir seien schließlich nicht in Nordkorea. Immer vorausgesetzt natürlich, ich könne. Steil ist es, da hat er Recht, aber kein wirkliches Hindernis für eine, die gerade eine mehrwöchige Wanderung hinter sich hat.

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Muxía ist ein Ort mit viel Wetter. An diesem Tag bläst der Wind aus Leibeskräften. Tanzend, rollend, schnaubend bahnt sich die See ihren Weg ans Ufer. An den vorgelagerten Felsen ruft sie die tollsten Explosionen hervor. Welch eine Kraft! Eine vorwitzige Passantin reißt es um ein Haar in die Fluten.

Von Bö zu Bö arbeite ich mich zum Heiligtum Nosa Señora da Barca am sturmgepeitschten äußersten Ende der Stadt vor. Nach Muxía war der Apostel Jakobus der Legende zufolge von Finisterre aus gereist, um sich zu erholen – überzeugt davon, dass er mit seinem Anliegen gescheitert war, die Einheimischen vom Sonnenkult ab- und ihnen die christliche Botschaft nahezubringen. In ein Gebet vertieft, so heißt es, weilte der Apostel am Meer, als sich die Jungfrau Maria in einem steinernen Boot näherte und ihm versicherte, seine Mission sei durchaus erfolgreich gewesen, er solle nur nach Jerusalem zurückkehren. Ein Rat, der sich am Ende als tödlich erwies.

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Wie weit können fliegende Fische wohl fliegen? Diese nicht so weit, sagt Juan und lacht. Seit seinem 14. Lebensjahr verarbeitet der 88-Jährige Congrio (Meeraal) zu den schönsten Kunstwerken. Mit dem Messer schneidet er in regelmäßigen Abständen Löcher in die Tierleiber, damit sie auf den hölzernen Gestellen am Meer besser trocknen. Die Konservierungsmethode haben einst die Katalanen nach Muxía gebracht. Anders als der in Galicien (und Portugal) stärker verbreitete Bacalao (Stockfisch) wird Congrio nicht gesalzen. Trotzdem muss man ihn vor dem Verzehr 48 Stunden wässern, sagt Juan, der Konsistenz wegen. Am besten schmecke er mit Kicherebsen.

Die jungen Leute, die mit einer Bierdose in der Hand an dem sonnenbeschienenen Mäuerchen ein paar Meter weiter lehnen, verstehen nicht so recht, was ich an dem Fisch so besonders und an der Art, wie er da hängt, so schön finde. Aber schmecken tue er, das ja. Oft kommt das Grüppchen allerdings wohl nicht in den Genuss. Der Großteil der Fische ist nämlich für auswärtige Abnehmer bestimmt. Nicht einmal gefangen wird er an der Costa da Morte sondern irgendwo vor dem französischen La Rochelle, erzählt Juan, der nun schon so lange für den galicischen Schliff sorgt.

Mit diesem Beitrag endet die kleine Reihe über meinen ersten Jakobsweg. Danke für euer Interesse!

The best is yet to come

Alle Jakobswege führen nach Santiago de Compostela, zum Grab des Apostels. Den letzten Teil des Wegs zum Kap von Finisterre an der Westküste Galiciens hat die katholische Kirche nie offiziell anerkannt. Dort, am Ende einer kleinen Halbinsel aus Granitgestein, enden wirklich alle Wege. Jenseits der schroffen Felslandschaft gibt es nur noch das weite Meer. Zu Fuß geht es nirgends mehr hin.

Für mich sind die knapp 90 Kilometer von Santiago nach Finisterre der schönste Teil des Camino, eigentlich weniger eine Fortsetzung des alten als ein eigener neuer Weg.

Zwei Tage lang fällt ununterbrochen ein wunderbar leichter Regen aus grauen Wolken auf Moore und sanft rollende Hügel. Aus den Flechtenbärten knorriger Bäume am Wegesrand tropft es so rhythmisch, dass man sofort weiß: Diese Landschaft, dieses Wetter sind einander sehr vertraut.

Ein Denkmal am Ortsausgang von Negreira rührt mich zu Tränen. Ein Mann, in Bronze gegossen, das kleine Bündel am Stock über der Schulter, die ernste Miene, der forsche Schritt – so wird er gehen in alle Ewigkeit.

Erst auf den zweiten Blick erkenne ich, dass da einer zieht an seinem festen Bein. Ein Junge. Sein Junge. Noch hält er den Vater. Gleich wird er sich resigniert umwenden zur Mutter, die still auf der anderen Seite sitzt, das jüngere Kind auf den Knien. Auch das ist Teil dieses Stücks Welt.

Regen passt gut zu Tränen. Ich lasse sie fließen. Die lieben Verstorbenen der vergangenen Jahre sind ganz nah. Wie gut der stille Weg von Santiago nach Finisterre tut! „Ein Ort ist beim Reisen niemals nur ein Ort, er ist der Schnittpunkt von Raum, Zeit und dem eigenen augenblicklichen Selbst“, schreibt die Hamburger Autorin Tina Uebel in ihrem Reisebericht über die Nordwestpassage.

Viele Kilometer später blitzt unter inzwischen wolkenlosem Himmel der Atlantik durch Ginster, Eukalyptus und Pinien. So britisch die Landschaft zu Beginn anmutete, so griechisch erscheint sie mir jetzt und so griechisch werden auch meine Erinnerungen. Alles war schon einmal da.

Weit führt mich der Weg nach Westen, dorthin, wo Tag für Tag die Sonne im Meer versinkt. Finis terrae, Ende der Erde, sagten die Römer. Finisterre bzw. Fisterra sagen die Spanier.

Es ist nicht der westlichste Punkt des europäischen Festlands – der befindet sich in Portugal – und noch nicht einmal der westlichste Punkt des spanischen Festlands – der liegt ein Stück weiter nördlich auf dem Weg nach Muxía – aber das tut seiner Magie nicht den mindesten Abbruch.

Ein Silberstreif am Horizont markiert die Grenze zum Meer. Wenn ein Schiff bis dorthin gefahren ist, fällt es ins Bodenlose, ganz klar. An diesem Ort erstaunt es kein bisschen, dass Menschen sich die Erde einst als Scheibe vorstellten.

Vom Ankommen

Ein letztes Mal muss ich mich entscheiden: links oder rechts herum? Bis zur Kathedrale von Santiago de Compostela ist es nicht mehr weit. Auf der Avenida Rosalía de Castro beginnt der Zieleinlauf der Pilger aus dem Süden in die Altstadt. Für immer Rosalía…

Ankommen bedeutet zuallererst: ein Ziel, einen Ort erreichen.

Für den Jakobspilger aus Portugal liegt dieser Ort an der Praza das Praterías, dem intimsten der vier Plätze, die die Kathedrale umgeben. Intim ist der Platz mit dem Pferdebrunnen darauf nicht etwa, weil er so abgeschieden wäre, sondern weil er mit seiner Geschlossenheit die größte Geborgenheit von allen ausstrahlt.

Auf den steinernen Stufen vor dem Südtor der Kathedrale und rund um die Wasser speienden Rösser stehen, sitzen, lagern Reisende aller Art. Zwischen ihnen tummeln sich Bettler und Animateure, die den Neuankömmlingen meist irgendein Lokal schmackhaft zu machen versuchen. Das ist viel auf einmal. Ich kann das bunte Treiben noch mehr genießen, als ich ein paar Stunden später wiederkomme.

In Santiago de Compostela ankommen ist ja mehr als einen Ort erreichen. Es ist auch: einen Moment innehalten, ganz bei sich sein.

Weggefährten umarmen.

An der Pilgermesse teilnehmen und dabei zusehen, wie der Weihrauchkessel hoch über den Köpfen der Anwesenden schwingt. Dem überirdischen Kyrie eleison der Nonne lauschen und sich eine Träne aus dem Auge wischen.

Fürs unvermeidliche Foto posieren. Ich fotografiere, also bin ich. Und feiern natürlich.

Gelassen blickt der Apostel Jakobus von seinem Ausguck hoch oben im zentralen Turm der Westfassade auf das Geschehen zu seinen Füßen. Auf einem Mäuerchen am Rande der Praza do Obradoiro, dieses größten und prachtvollsten der vier Plätze, fast direkt vor dem Eingang des teuersten Hotels der Stadt, sitzt eine alte Frau. Sie stützt sich auf ihren Stock. Für einen kurzen Moment belebt sich das müde Gesicht: „Hola peregrino“, ruft sie einem der letzten Neuankömmlinge zu, „suchst du einen Platz zum Schlafen?“ An diesem Tag wird die alte Frau allein nach Hause zurückkehren.

Von Wasser und Steinen

Wasser und Steine begleiten mich auf meinem Weg von Porto nach Santiago de Compostela. Es sind gute Wegbegleiter. Für Bewegung steht das eine. Es erquickt und trägt voran. Stille Zeugen der Zeit sind die anderen. Festigkeit und Ruhe wohnt in ihnen.

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In die Fluten des Lima sprengt ein römischer Legionär, genauer: dessen muskulöse Statue. Er und das kleine Heer auf der anderen Seite des Flusses erinnern an frühe Besatzungszeiten auf der Iberischen Halbinsel, als der römische Statthalter Decimus Junius Brutus seine Legionen über die Flüsse Lima und Minho führte, um das damalige Gallaecia einzunehmen. Dabei stieß er nach der Überlieferung auf heftigen Widerstand nicht nur der Einheimischen sondern auch der eigenen Soldaten, die glaubten, dass der Lima einen der Flüsse der Unterwelt repräsentierte – Lethe, den Fluss des Vergessens. Heute brüsten sich die Einwohner von Ponte de Lima, das der Römerbrücke seinen Namen verdankt, damit, in der ältesten Stadt Portugals zu leben. Funde belegen die Besiedlung der Gegend seit der Altsteinzeit. Von Vergessen keine Spur.

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Das kleine Landgut im nordportugiesischen Niemandsland, in dem ich die Nacht verbringe, ist schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts im Besitz von Iñes Familie. Die Weinstöcke zwischen den feldsteinernen Mauern der Gebäude scheinen nur unwesentlich jünger zu sein. Während wir in der traditionell blau gekachelten Küche ein Mahl aus portugiesischem Fisch, asiatischem Gemüse und marokkanischen Gewürzen zubereiten, erzählen wir einander Geschichten, die noch nicht ganz so alt sind.

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Viel Raum nimmt sich der Coura mit seinen dekorativen Fällen. Auch ich schreite kraftvoll aus.

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Cruzeiros säumen den Weg. Pilger legen Steine auf oder unter den Kreuzen ab, manchmal auch Bilder und sogar Wanderschuhe. Die Steine bezeugen den Besuch. Oft verkörpern sie auch eine Last, die der Pilger auf seinem Weg zurücklassen möchte. Manch einer trägt seinen Stein schon von zu Hause mit sich. Er knüpft damit an alte Pilgertraditionen an und interpretiert sie zugleich neu: Im Mittelalter wurden Verbrecher zu einer Wallfahrt zum Grab des Apostels Jakobus in Santiago verurteilt. Je nach Schwere der Tat gab der Richter ihnen auf, einen Stein als zusätzliche Buße zu tragen.

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An einem der steinernen Brunnen auf dem Weg ins spanische Redondela gibt es zum Trinkwasser gleich noch geistige Nahrung dazu: „Von den weitesten Enden der Welt bis zum Himmel / gibt es einen weißen Weg, der den Pilger führt / von den weitesten Enden der Welt bis nach Santiago.“ Darüber thront, mit einem Buch in der Hand, María Magdalena Domínguez, Stein gewordene poetista von Mos, das an diesem Tag allerdings weniger durch seine Dichterin als durch eine Ansammlung der tollsten Vogelscheuchen auf sich aufmerksam macht. Die Puppen sollen im Rahmen eines Festes prämiert werden, mit dem man an die Befreiung von den napoleonischen Truppen erinnert. Man frage mich bitte nicht nach dem Bezug zwischen historischem Ereignis und konkreter Ausgestaltung der Gedenkfeier.

Einen knappen Tagesmarsch weiter, an der Ponte Sampaio, brachte die Bevölkerung Napoleons Heer eine der empfindlichsten Niederlagen in Galicien bei. Ich genieße bei einem Glas Orangensaft den Blick auf die geschichtsträchtige Brücke.

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Irgendwo in der Gegend muss meine Liebe zu diesen wunderbaren Steinhäuschen begonnen haben, in denen traditionell Mais und andere Feldfrüchte getrocknet werden und die ich fortan in jeder nur denkbaren Machart, in jedem nur denkbaren Verfallszustand fotografiere.

Hórreos, wie sie im kastilischen Spanisch heißen, stehen frei. Das Charakteristische an ihnen ist der Unterbau: Auf meist steinernen Pfeilern liegen große Steinscheiben, auf denen der eigentliche Speicher ruht. In Galicien ist in der Regel auch der Speicher aus Stein. Er hat einen langgestreckt rechteckigen Grundriss. Die Wände sind mit Luftschlitzen versehen. Grund dafür ist das Wetter im Nordwesten der Iberischen Halbinsel: Häufige ergiebige Regenfälle und die daraus resultierende hohe Luftfeuchtigkeit lassen die Vorräte bei schlechter Durchlüftung verrotten. Gleichzeitig dürfen aber keine Mäuse und Ratten durch die Lüftungsöffnungen eindringen. Diese sind klein genug, um auch Vögel vom Lagergut fernzuhalten. Die Steinplatten auf den Pfeilern bilden einen Überhang, der von am Boden lebenden Tieren nur sehr schwer zu überwinden ist.

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So viele Quellen sprudeln am Wegesrand. Aus vielen kann man sogar trinken. Herrlich! Nie werde ich das weiche frische Wasser aus den Bergen vergessen, das ich an der Fonte Figueirido Salgueriño erst durch die trockene Kehle und dann in die leeren Wasserflaschen rinnen lasse. Und wie dankbar bin ich, als ich am Ende eines langen Wandertags kurz vor Caldas de Reis die müden Füße in die klirrkalte Tränke der Herberge halten darf, während ich den Wanderstab des alten Carlos bestaune, in den dieser sein Leben hineingeschnitzt hat.

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Bis Santiago ist es noch ein halber Tagesmarsch. Die krüppeligen Eichen, unter denen ich meine Notizen vervollständige, bieten kaum Schutz vor der stechenden Sonne. Die klein gebliebenen alten Bäume krallen ihre Wurzeln in einen Haufen moosbewachsener Steine. Sie sollen einmal zum Castro Lupario gehört haben, dem Sitz der legendären Königin Lupa, die über Galicien herrschte, als die Jünger mit dem toten Apostel Jakobus aus Jerusalem zurückkehrten und um einen würdigen Grabplatz baten. Die Königin suchte dies mit allerlei Listen zu verhindern, am Ende vergeblich. Ein neuer Wallfahrtsort war geboren.

Den Pfeilen folgen

„Gut Weg will Pfeile haben!“ Wie dankbar bin ich dem „undogmatischen Pilgerforum“, das seine Botschaft auf einen Laternenpfahl geklebt hat. Schon der konkreten Orientierungshilfe wegen. Spaziere ich doch, noch dazu bei ergiebigem Dauerregen, quasi durch Niemandsland: ein menschenleeres Gewerbegebiet irgendwo hinter Vila do Conde auf dem Weg vom Caminho da Costa zum traditionellen Caminho Português weiter drinnen im Land. Dieses Hin- und Herswitchen zwischen verschiedenen Wegen mag man vor Ort offenbar nicht. Entweder… oder. Wer dennoch wechselt, muss das ohne gelbe Pfeile tun, die den Jakobspilger ansonsten in großer Fülle und meist auch großer Deutlichkeit auf seinem Weg nach Santiago de Compostela begleiten.

Dankbar bin ich den Undogmatischen aber auch, weil sie mir eine Überschrift zu meinem eigenen Camino schenkten. „Gut Weg will Pfeile haben!“ Genau. „Pfeile“, die deine Ziele und Zwischenziele markieren, die die Richtung bestimmen, die du einschlägst, die deine Schritte lenken. Wenn du gerade nicht so genau erkennst, wohin dich dein Weg im Leben führt, mag es eine gute Idee sein, eine Weile gelben Pfeilen zu folgen. (Oder blauen, es ist nichts an der Farbe gelegen. Die blauen führen in die entgegengesetzte Richtung, zum Wallfahrtsort Fátima 130 Kilometer nördlich von Lissabon, der für Portugiesen mindestens so bedeutend ist wie das spanische Santiago.)

Noch nach Tagen staune ich, wie wenig man denken kann. Gelben Pfeilen zu folgen, butterblumengelben, ginstergelben, ist gerade genug Aktivität für mein Hirn.

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Spät bin ich an diesem Tag gestartet, nach einem umfangreichen Frühstück mit Eiern, Pflaumen, Brot und Kuchen und diversen Bechern Milchkaffee – Hape Kerkeling hätte seine Freude gehabt. Während ich mit Jorge, dem Betreiber des Guesthouse, plaudere, wird mir bewusst, wie fremd es vielen Menschen hier erscheinen muss, allein Hunderte von Kilometern durch die Gegend zu stapfen, wie das mancher (vor allem ausländische) Pilger tut. Spanier und Portugiesen neigen offenbar weniger zum Alleingang. Jorge weiß sogar von einem Gästepaar zu berichten, das getrennt wanderte. Zuerst, so erzählt er mir, habe er angenommen, der Mann habe seine Frau vergessen, als der das Guesthouse verließ, während sie noch seelenruhig beim Frühstück saß. Aber es stellte sich heraus, dass die Motivationen der beiden einfach zu unterschiedlich waren, um den Camino gemeinsam zu gehen. Die Frau war auf einem eher spirituellen, inneren Weg. Damit hatte der Mann nichts am Hut. Auf die Idee zu pilgern wäre er von allein nie gekommen, das Wandern an sich mochte er. Also gingen die beiden tagsüber getrennte Wege, zum Abendessen trafen sie sich wieder. Jorge schüttelt den Kopf. Das, sagt er, wäre wohl nichts für ihn.

Allein. Zu zweit. In Gruppen. Heute so, morgen vielleicht ganz anders. Oder auch genauso wie am Vortag. Die Boy Group aus Cuenca, das Girls Team aus Puerto Rico, die ihre Zusammengehörigkeit für jeden erkennbar durch Gruppen-Shirts manifestieren – die Herren in Rot mit Jakobsmuschel, die Damen in Blau mit Pfeil -, gehören ganz sicher dazu. Manche werden auf dem Weg zu Familien auf Zeit. Meine gute Bekannte Barbara ist so eine. Sie liebt es, allein loszugehen, aber wohl noch mehr liebt sie es, unterwegs eine „Camino Family“ zu gründen, die fortan den Weg oder größere Teile davon gemeinsam zurücklegt.

Das Beste am Camino sind die Menschen, sagen viele. Sie sind auf jeden Fall wesentlicher Teil dessen, was einen Pilgerweg ausmacht, was ihn von – sagen wir – einem beliebigen Fernwanderweg unterscheidet. Der Unterschied hat, so vermute ich, mit den vielen persönlichen Gründen zu tun, aus denen sich Menschen bis heute auf einen Pilgerweg begeben. Das muss ja weder Buße noch die Erfüllung eines Gelübtes sein. Es ist nach meiner Erfahrung noch nicht einmal erforderlich, über die Gründe zu sprechen – die eigenen, die des Gegenüber –, sie bilden auch unausgesprochen ein Fundament, das es erlaubt, einander direkter und „ungeschützter“ zu begegnen als an manch anderem Ort, unter anderen Umständen. Dass dieses Fundament auch Menschen am Wegesrand trägt, merkst du vielleicht, wenn du plötzlich das Gefühl hast, du läufst nun auch für den Unbekannten am Ortsausgang mit, der dich gerade spontan bei den Schultern gepackt und dir einen Kuss auf die Stirn gedrückt hat.

Wie ich selbst zu „Camino Families“ stehe? Ambivalent, würde ich sagen. So sehr ich die Begegnung liebe, sie aktiv suche, so gern ich mich von anderen „finden“ lasse, so sehr schätze ich es auch immer wieder, allein unterwegs zu sein. Still zu werden. Nichts zu denken. Den Pfeilen zu folgen…

Wo der Weg beginnt

Meine Freundin Katrin hatte mir zum Abschied ein Bild der weißen Tara geschenkt. Sie sagte, es sei von einem Lama gesegnet. Die weiße Tara, ein weiblicher Bothisattva des tibetischen Buddhismus, soll ein langes Leben gewähren und vor Krankheiten schützen. Marlene gab mir die Frage mit auf den Weg, was wohl die Seele ist, immer vorausgesetzt, es gibt sie. Eine spanische 1-Cent-Münze mit der Kathedrale von Santiago de Compostela auf der Rückseite, die sich zufällig in meinem Portemonnaie befand, schien mir ein gutes Omen zu sein. Ich tat auch sie in die wiederverschließbare Plastikhülle, in der neben Personalausweis und Kreditkarte bereits die weiße Tara und mein Pilgerausweis steckten. Seit heute prangt darin der erste Stempel – von der Kathedrale im nordportugiesischen Porto.

Das Wetter ist kühl und regnerisch. Ich schmökere in Hape Kerkelings Jakobsweg-Erinnerungen. Morgen soll der Camino für mich beginnen. Aber wahrscheinlich hat er das längst. „El camino comienza en tu casa“, sagen sie in Spanien auf die Frage, wo denn der Jakobsweg beginne. In deinem Haus. Bei dir. „Es ist dein Weg“ steht viersprachig auch in meinem Pilgerpass, den ich mir vor der Reise vom Freundeskreis der Jakobswege in Norddeutschland hatte schicken lassen. So viele Wege führen nach Rom. So viele Wege führen aber auch nach Santiago de Compostela. Der Camino Francés, auf dem Hape Kerkeling unterwegs war, ist der mit Abstand bekannteste von allen, ganz besonders seit er darüber geschrieben hat. Ich habe mich für den weniger überlaufenen Camino Portugués entschieden, der von Lissabon aus nach Galicien führt, genauer: für die rund 250 Kilometer lange Teilstrecke von Porto nach Santiago. Wenn es gut läuft, wenn ich gut laufe, will ich von dort weiter nach Finisterre, wo einst die Welt endete…

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Nachdem es seit dem Vortag praktisch durchgeregnet hat, schwanke ich lange zwischen Aufbruch und Bleiben. Allerdings verheißt die Vorhersage noch mindestens eine Woche extrem wechselhaftes Wetter mit viel Regen und kühlen Temperaturen. Also los, zuerst ein Stück am Douro entlang und dann dem Atlantik nach Norden folgen. Nicht schön, gleich das Regencape überstreifen zu müssen. Und wieso ist der Rucksack immer noch so schwer und beinahe noch fetter als bei der Abreise, wo ich doch Kniebandagen, Einlagen und Cape trage und auch die Wanderstöcke sofort im Einsatz sind? Einen Augenblick verspüre ich Panik, kann mir nicht vorstellen, dass ich mit so einer Last auf dem Rücken – an die elf Kilo werden es sein – lange durchhalte. Aber es geht besser als befürchtet. Schon bald laufe ich unter der Ponte da Arrábida hindurch. Die letzten Portweinkeller am gegenüberliegenden Flussufer tauchen in den tief hängenden Wolken unter. Foz do Douro, Fortaleza de São João, Castelo do Queijo: In Erinnerung bleibt der Atlantik, der sich an ihnen allen bricht. Und die Skulptur „Tragédia do Mar“ in Matosinhos. Die Verzweiflung der bronzenen Fischersfrauen ist mit Händen zu greifen: Starr blicken sie auf das tosende Meer, das ihnen die Männer nahm. Einige strecken wie hilfesuchend die Arme in den Himmel, andere raufen sich die Haare.

Die ersten zehn Kilometer liegen hinter mir. In einer Strandbar genehmige ich mir Kaffee und Snack. Noch immer trete ich Stein, aber immerhin übertönt der Atlantik inzwischen den Straßenverkehr. Um nicht Dutzende Kilometer an vielbefahrenen Hauptverkehrsstraßen entlang laufen zu müssen, hatte ich beschlossen, zumindest bis Vila do Conde der Küste zu folgen und mich dort zu entscheiden, ob ich weiter am Atlantik bleibe oder ins Landesinnere auf den Camino Central wechsele. Der Weg ist okay, nicht richtig schön, aber mit schönen Momenten. Nichts fesselt wirklich, es ist leicht, weiter zu gehen, ohne viel zu denken. Inzwischen hat es aufgehört zu regnen, sogar die Sonne lässt sich dann und wann blicken.

Hinter der Capela Boa Nova beginnt das System von Holzbohlenstegen, das mich bis Vila do Conde begleiten soll. Angelegt zum Schutz des fragilen Lebensraums, bieten die hölzernen Wege zugleich einen prima Laufgrund. An diesem ersten Tag verbringe ich nur wenige Kilometer „auf dem Holzweg“. In Cabo do Mundo, gleich hinter dem riesigen Raffineriegelände von Petrogal, checke ich in der einzigen Pension des Ortes ein. Gegenüber donnert der Atlantik an die Felsen. Ein surrealer Anblick. Dass hier ein weiteres der offenbar zahlreichen „Enden der Welt“ erreicht ist, glaubt man sofort. Noch vor dem Duschen mache ich einen kleinen Spaziergang ohne Rucksack. Seltsamerweise tun weder die Füße noch der Rücken weh und auch das Knie nur ein winziges bisschen. Ich bin zufrieden. Immerhin 17 Kilometer habe ich zurückgelegt. Der Anfang ist gemacht!

Für immer Rosalía

Als ich zeitgleich mit der Señora Castro die Anhöhe erreichte, hockte der Bauer Iglesias Castro schon dort. Auf einem Stein, neben seinem Pferdefuhrwerk, als kennte er weder Woher noch Wohin. Auch das Pferd verspürte offenbar keine Eile. Mit halb geschlossenen Augen döste es in den nordspanischen Frühlingstag. Dann und wann schlug es mit dem Schweif eine lästige Fliege fort. Als die Señora und ich das Stillleben aus Mann und Ross erreichten, hatten wir noch kaum ein Wort gewechselt. Nicht viel mehr als „Buen camino!“, „Guten Weg!“, den Standardgruß aller Jakobspilger. Eine Anhöhe ist ein guter Ort, um einen Moment innezuhalten, sich umzuschauen – und ein paar Worte zu wechseln, wenn es sich gerade so ergibt.

Im Laufe unserer kurzen Unterhaltung stellte sich heraus, dass die Señora und der Bauer denselben Namen tragen: Castro. Dass der Bauer so heißt, ist nicht weiter verwunderlich. Der Name ist in Nordspanien ungefähr so verbreitet wie Müller oder Meier in Norddeutschland. Die Señora dagegen hatte schon die halbe Welt durchmessen, um einem der vielen Pilgerwege ins galicische Santiago de Compostela zu folgen. Ihre Reise begann im fernen Uruguay. Dort ist die alte Dame mit dem flotten grauen Bubikopf zu Hause. Und gleichzeitig begann die Reise praktisch um die Ecke, denn drei ihrer Großeltern stammen aus Galicien, der vierte aus dem Baskenland. Als junge Menschen hatten sie wie so viele andere das Land verlassen, um in Südamerika ihr Glück zu suchen.

Nur wenige Kilometer weiter, in dem Städtchen Padrón, sollte ich der nächsten Señora Castro begegnen, die allerdings wohl nur ich so nenne. Und das auch nur in Gedanken, denn die Señora ist schon eine Weile tot. Aber eigentlich stimmt auch das nicht. In den Herzen ihrer Landsleute ist sie nämlich sehr lebendig. Ebenso wie der Apostel Jakobus, dessen Leichnam der Legende zufolge per Schiff von Jerusalem nach Padrón befördert wurde, bevor er in der Kathedrale von Santiago 25 Kilometer weiter nördlich seine letzte Ruhe fand. In Padrón, das ansonsten vor allem für seine megaleckeren in Öl gebratenen grünen Paprika (Pimientos de Padrón) bekannt ist, verbrachte die Dichterin Rosalía de Castro (1837-1885) ihre letzten Lebensjahre. Später lebte dort außerdem noch der Nobelpreisträger Camilo José Cela (1916-2002), einer der bekanntesten spanischen Schriftsteller. Der steinerne Cela markiert das eine Ende des mit wunderschönen alten Platanen bestandenen Paseo de Espolon am Ufer des Sar, die steinerne Rosalía das andere. In ihrem Rücken, unter dem Altar der Iglesia de Santiago, befindet sich der Stein, an dem einst das Boot mit dem enthaupteten Apostel an Bord am Flussufer festgemacht haben soll und nach dem die Stadt ihren Namen erhielt.

All die steinernen Zeugen vor Augen, all die Geschichten im Kopf, die historisch belegten ebenso wie die anderen, erreichte ich die nächste Anhöhe. Zeit, für einen Moment innezuhalten. Ein Mann auf dem Feld am Wegesrand hörte bereitwillig auf zu graben, stützte sich auf seinen Spaten und begann, kaum hatte ich Padrón erwähnt, von Rosalía zu schwärmen, wie sie dort alle nennen, und von ihren wunderbaren Texten. Er gab mir auch gleich eine Kostprobe, auf gallego natürlich. Denn das ist ja gerade das Tolle an Rosalía, dass sie einen Teil ihres Werks in der galicischen Landessprache verfasste und dieser damit zu literarischer Bedeutung verhalf – allen voran die „Cantares Gallegos“, die galicischen Lieder. Für mich übersetzte er die Zeilen freundlicherweise noch ins kastilische Spanisch. Ich weiß noch, dass es um die Landschaft ging und diese Mischung aus Melancholie und Sehnsucht, die den Menschen in diesem Teil der Welt eingeboren zu sein scheint. Kurz sprach ich den Mann auf den zweiten berühmten Autor Padróns an: Camilo José Cela. Den mochte er offenbar nicht, ein „bruto“ sei das gewesen, das wüssten alle in der Gegend. Und schon war er wieder bei Rosalía, der Vielgeliebten. Mit leuchtenden Augen nahm er mir das Versprechen ab, etwas von ihr zu lesen, in welcher Sprache auch immer. Die deutsch-spanische Ausgabe des Lyrikbandes „An den Ufern des Sar“ habe ich inzwischen bestellt. Beim Herumschmökern im Internet stellte ich im Übrigen fest, dass auch der Kollege Cela offenbar große Stücke auf Rosalía de Castro hielt (siehe dazu die interessante Website „Rosalía auf Deutsch“ von Christian Switek).

Rosalía blieb mir treu auf meinem Weg durch Galicien. An den Ufern des Lires, nur einen Steinwurf vom tosenden Atlantik entfernt, stehen sogar Tafeln mit Versen der Dichterin – am Fluss, vor dem Friedhof, neben der Kirche. Idyllisch sieht das aus. Kaum mag man glauben, wie arm auch das Dorf Lires mit seinen hübschen alten Steinhäusern noch vor gar nicht langer Zeit gewesen sein muss. Oder ist es Zufall, dass in praktisch jedem Gespräch von Familienangehörigen die Rede ist, die bis in die 1960er Jahre nach Südamerika auswanderten? Nach Argentinien vor allem, aber auch nach Uruguay, wie die Großeltern der anderen Señora Castro. Der Vater von Raúl ebenso wie die Vettern von José. Die Vettern waren zum Teil erst 15, als sie die lange Reise ins Ungewisse antraten. José dagegen war mit 12 Jahren zum ersten Mal in der Stadt, im nur neun Kilometer entfernten Cee. Für die kurze Reise hatte zuvor einfach keine Notwendigkeit bestanden. Es ist wohl so, wie der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano schreibt: „Das Beste der Welt liegt in den vielen Welten, die die Welt enthält, den ganz verschiedenen Melodien des Lebens, seinen Schmerzen und vielerlei Schattierungen: den tausendundeinen Arten, zu leben und zu lieben, zu glauben und zu schaffen, zu essen, zu arbeiten, zu tanzen, zu spielen, zu reden, zu leiden und zu feiern, die wir im Laufe von Tausenden und Abertausenden von Jahren entdeckt haben.“