Porzellan-Studien

Ich kann nicht behaupten, dass ich mich bisher besonders intensiv mit Porzellan beschäftigt hätte. Vor Jahren habe ich mal ein Service ausgesucht: weiß mit zarten Rillen. Schlicht ist es und schön. Das Geschirr gefällt mir immer noch, auch wenn ich es selten bewusst wahrnehme. Umso stärker habe ich während meines Besuchs in Meißen das viele „weiße Gold“ wahrgenommen. Tassen und Teller, Vasen und Figurinen: überall in der Stadt wird „echtes Meissener“ zum Verkauf angeboten. Neu und antiquarisch, mit dem berühmten blauen Zwiebelmuster, reinweiß oder farbig auf weißem Grund, mit und ohne Goldrand, immer glänzend.

Natürlich war ich auch in der ältesten Porzellanmanufaktur Europas, gemeinsam mit meiner Freundin Anne, die für ein paar Wochen in der Meißner Lokalredaktion der „Sächsischen Zeitung“ arbeitet. Als wir ankamen, sollte gerade eine Führung durch die Schauwerkstätten der Manufaktur beginnen. Welch ein Glück. Jetzt kann ich ermessen, wie viel Sorgfalt, wie viele Arbeitsschritte es braucht, bis ein einziger Teller fertig ist. Auch die Preise, die für das Porzellan mit den gekreuzten Schwertern aufgerufen werden, erschließen sich mir nun etwas besser. Aber das ist ein anderes Thema.

Besonders das weiße Porzellanmädchen hatte es mir angetan. In ihre bereits ausgestreckte Hand wird ganz am Ende des Fertigungsprozesses noch eine goldene Kugel gelegt werden. Ihr Gesicht, ihre Haare, ihr zartes Kleidchen werden dann bereits farbig sein, der Sockel, auf dem sie steht, goldene Ränder erhalten haben. Mir gefällt sie in schlichtem Weiß noch besser. Anne meint, das habe wohl mit den Marmorskulpturen der Antike und der Renaissance zu tun, die unsere Sehgewohnheiten bis heute prägen. Natürlich! Die „Venus von Milo“, Michelangelos „David“, Botticellis „Geburt der Venus“ – sofort ist der Kopf voller Bilder.

Zwei Tage später wartete ein ganz besonderer Ort auf uns, für mich auch: ein weiterer Schritt in der Wahrnehmung von Porzellan. Das „weiße Gold“, mit dem die Meißner Nikolaikirche nach dem Ersten Weltkrieg komplett neu ausgestattet wurde, glänzt ebenfalls wie frisch gefallener Schnee, aber es ist nicht mehr lieblich und gefällig, es ist Stein gewordene Trauer und Schmerz. Seit 1929 ist die romanische Kirche an der Triebisch, die einst durchreisenden Kaufleuten und den am Fluss ansässigen Fischern als Gotteshaus diente, eine Gedächtnisstätte für die Toten des Ersten Weltkriegs. Wir besuchten sie zusammen mit Georg Krause, Kirchenvorstand in der Gemeinde St. Afra, zu der die Nikolaikirche heute gehört, und bis zu seiner Pensionierung Architekt im Hochbauamt der Stadt.

An den korallenrot gestrichenen Wänden der Kirche sind vierzehn Epitaphe aus Meissener Porzellan angebracht, zusammengesetzt aus kleinen Tafeln mit den Namen von insgesamt 1815 Meißnern, die im Ersten Weltkrieg ihr Leben ließen. Soldaten zumeist, aber auch ein paar Krankenschwestern. 1756 Evangelische, 52 Katholische, zwei „Israeliten“ und fünf „Dissidenten“, wie man damals notierte. Angeordnet sind die Tafeln nach Todesjahren. Auf Titel wurde bewusst verzichtet. „Es handelt sich schließlich nicht um ein Kriegerdenkmal“, sagt Georg Krause.

An den Seiten einiger Epitaphe knien Frauengestalten aus Porzellan. Sie symbolisieren trauernde Mütter. Ihre nackten Füße treten auf zerbrochene Schwerter, in den Händen halten sie Fackeln. Zwischen den Tafeln bedecken Kinderfiguren die weinenden Gesichter. Rechts und links vom Altar stehen zwei überlebensgroße Frauenfiguren: Mütter, die ihre Hände schützend über ihre Kinder halten. Mit zweieinhalb Metern Höhe sind es die größten Figuren aus Meissener Porzellan, die bis dahin hergestellt wurden. Womöglich sind es bis heute die größten.

Das zerbrechliche Material eignet sich gut zur Erinnerung an die Opfer des Krieges, findet Georg Krause, räumt aber ein, dass er selbst eine Weile gebraucht habe, um Zugang zu dieser Kunst, zu diesem Material auch, zu finden. Er scheint nicht der Einzige gewesen zu sein: Beachtet, aber auch beargwöhnt und lange Zeit komplett vergessen, so umschreibt Krause das Schicksal der Meißner „Porzellankirche“. Geändert habe sich das im Grunde erst nach 1989, als man sich auch den traurigeren Zeiten der eigenen Geschichte stärker zuwandte.

Das Konzept stammt von Max Adolph Pfeiffer, nach dem Ersten Weltkrieg Direktor der Porzellanmanufaktur. Die Fertigung oblag seinem künstlerischen Leiter Prof. Emil Paul Börner. Finanziert wurde das Projekt mit drei Lotterien. Als Lose wurden Münzen aus Böttchersteinzeug, sogenannte Porzellantaler, ausgegeben. Bei der zweiten Lotterie 1923 kam die Inflation dazwischen. Einfach war die Neugestaltung der stark verfallenen Kirche bestimmt nicht – auch weil sich die Vorstellungen von Pfeiffer und Börner einerseits und den Kirchenoberen andererseits durchaus nicht immer deckten.

Längst ist diese besondere Kirche mit ihren gotischen Fenstern, dem beinahe maurisch anmutenden Bogen zwischen Kirchenschiff und Chor und ihren vielen Art Deco-Elementen wieder vom Verfall bedroht: Die Nähe zum Fluss mit gelegentlichen Überschwemmungen, die Feuchtigkeit, die in die Eisenträger zieht, auf denen die Porzellankacheln aufgebracht sind, fordern ihren Tribut. Die rostenden Träger dehnen sich aus, lassen die Kacheln platzen. Fugen, die für Ausgleich sorgen könnten, gibt es nicht. Man müsste die Kacheln abtragen, um sie zu restaurieren und würde sie dabei doch unweigerlich zerstören, beschreibt Georg Krause das Dilemma. Wo sollte man ein Messer ansetzen? Verhindern könne man den Verfall nicht, fürchtet er, nur verzögern. Und so gewinnt das nur noch zum Teil zu entziffernde Buddha-Zitat, das Max Adolph Pfeiffer einst gegen den Willen des Kirchenvorstands in die Stufen vor dem Auferstehungsaltar meißeln ließ, seinen ganz eigenen Sinn: „Erscheinung vergeht, harret aus im Streben“.

Auf dem Schlossberg

Hoch über dem Elbtal in Meißen thront neben dem Dom die spätgotische Albrechtsburg. Gebaut ab 1471 an dem Ort, an dem schon im 10. Jahrhundert ein befestigtes Militärlager entstanden war, aus dem sich später eine Burg entwickelte, gilt sie als das älteste Schloss Deutschlands. Auftraggeber waren die Brüder Ernst und Albrecht von Wettin, die damals gemeinsam in Sachsen regierten. Die neue Residenz sollte repräsentatives Verwaltungszentrum und Wohnschloss in einem werden. Daraus wurde am Ende nichts, denn noch während des Baus teilten die Brüder das wettinische Reich auf. Ab und zu fanden Empfänge und Jagdgesellschaften in der Albrechtsburg statt, meist jedoch stand sie leer. Im Dreißigjährigen Krieg wurde sie von schwedischen Truppen besetzt. Zwischendurch diente sie auch mal als Vorlesungsraum und als Gefängnis. Erst August der Starke nutzte den Bau ab 1710 kontinuierlich – als Europas erste Porzellanmanufaktur, Vorgänger der heutigen Manufaktur im Triebischtal. Erster Direktor war, wie ich im Schloss erfuhr, übrigens ein vorgeblicher Goldmacher, der selbst auf der Albrechtsburg inhaftiert gewesen war und sich zu seinem und des Kurfürsten Nutzen darauf verlegte, fortan die Herstellung des „weißen Goldes“ zu ergründen. 153 Jahre lang wurde im Schloss das berühmte „Meissener“ hergestellt, nur die Brennarbeiten fanden in einem Nebengebäude statt. Nach umfangreichen Restaurierungen und einer künstlerischen Neugestaltung mit allerlei Wand- und Deckenmalereien wurde die Albrechtsburg zum Museum der bewegten Geschichte Sachsens.

Ich habe das Schloss an einem sehr sonnigen Tag besucht und kann das nur empfehlen. Es ist im Wortsinn eine helle Freude zu sehen, wie das Licht durch die „Vorhangbogenfenster“ in die vielen Nischen fällt, wie es Säulen umspielt, Decken in Lauben und Kathedralen verwandelt und über die Stufen des Großen Wendelsteins fließt.

Der Treppenturm im Haupthaus ist für mich das Highlight der Albrechtsburg. Geschwungene Stufen winden sich um eine filigrane steinerne Spindel mehr als 50 Meter in die Höhe.

Man kann die Treppe gar nicht anders als schreitend begehen, so wunderbar sind Tiefe und Höhe der Stufen auf die menschliche Physiognomie ausgerichtet. Am Ende mündet die steinerne Schnecke in eine Art Krone. Wie könnte es anders sein!

Aber genug der Worte. Auf einer der kunstvoll verzierten Decken in der Albrechtsburg las ich diesen Sinnspruch: „Wer reden will, thue das Maul auf, rede frisch drauf und höre bald auf.“

Der höchste Raum der Albrechtsburg ist übrigens ein historisches Plumpsklo mit weit über 20 Metern Fallhöhe. Ich stelle mir vor, dass seine Benutzung eine zugige Angelegenheit gewesen sein muss, ganz besonders im Winter.

Reingeschmeckt

So ein hübsches Städtchen! denke ich, während ich mit meinem Koffer durch die kopfsteingepflasterte Meißner Altstadt Richtung Freiheit rumpele. Zuerst sanft, ab dem Ende der Burgstraße entschieden steiler führt der Weg hinauf auf den Burgberg, der eigentlich ein Schlossberg ist. Deshalb und auch, weil Pflastersteine und Stufen mit einer zarten Eisschicht überzogen sind, die jeden unbedachten Schritt nur zu leicht in eine Rutschpartie in die falsche Richtung verwandelt, bleibe ich immer wieder stehen und mache innerlich Ah! und Oh!

Eindeutig: Es gibt nicht nur die Gnade der späten Geburt sondern auch die der späten Sanierung. Immer vorausgesetzt natürlich, sie kommt nicht so spät, dass gar nichts mehr zu retten wäre. Dieser sächsischen Kleinstadt ist augenscheinlich so manche Renovierungssünde erspart geblieben, die andernorts wenig Substanz hinter den historischen Fassaden, dafür aber umso größere Fenster darin hinterließ. Dass man durch den backsteinernen Ziergiebel des spätgotischen Prälatenhauses an den Roten Stufen den strahlend blauen Himmel sieht, ist übrigens kein Widerspruch. Das soll so. Immer vorausgesetzt natürlich, der Himmel strahlt gerade.

Vom Prälatenhaus bis zu meiner Unterkunft im ehemaligen Domherrenhof an der Freiheit ist es nur ein Katzensprung. Der Renaissancebau, dessen Kellergewölbe bis auf das 13. und 14. Jahrhundert zurückgehen, wurde nach jahrelangem Leerstand Anfang dieses Jahrtausends ebenso behutsam wie geschmackvoll saniert. Leider habe ich versäumt, auch nur ein einziges Foto von dem Komplex zu machen, vermutlich, weil dafür ja immer noch Zeit sein würde. Am tollsten ist allerdings ohnehin der Ausblick über das Elbtal – vom Dom und der Albrechtsburg zur Linken über die roten Ziegeldächer der Kaufmanns- und Bürgerhäuser bis hinunter zum Fluss.

Natürlich ist auch in Meißen nicht alles Gold, was glänzt. Die Goldene Sonne am Theaterplatz zum Beispiel, wie der Domherrenhof im 16. Jahrhundert erbaut und später der erste Gasthof mit Saalbetrieb im Ort, bräuchte dringend eine Generalüberholung. Und die Fettbemmenschänke auf der anderen Seite der Altstadtbrücke über die Elbe zumindest einen neuen Anstrich. Aber nicht deshalb tauchen sie hier auf, sondern weil sie so schön zum Thema sächsische Küche überleiten. In Hamburg hieße die Fettbemmenschänke übrigens „Schmalzbrotkneipe“. Für eine Vegetarierin klingt das eine so wenig verlockend wie das andere.

Da probiere ich doch lieber eine Meißner Fummel, auch wenn sich die kulinarische Erwartung nach Lektüre des Wikipedia-Eintrags in Grenzen hält: „Es handelt sich um einen Hohlkörper aus sehr dünnem, einfachen Teig. Die Form entspricht der eines unregelmäßigen runden ‚Ballons’. Das Gebäck ist äußerst spröde und daher zerbrechlich. Meißner Fummeln haben keinen besonderen Geschmack und wegen der nur hauchdünnen Teigschale um die innen befindliche Luft besitzen sie keinen nennenswerten Nährwert.“ Das glaube ich sofort, was den Unterhaltungswert der Fummel indes in keiner Weise schmälert. Allein das voluminöse Federgewicht heil von der Konditorei auf den Frühstückstisch von Freundin Anne zu schaffen, die gerade ihren Schreibtisch in der Frankfurter Chrismon-Redaktion mit dem der Elblandreporterin der Sächsischen Zeitung in Meißen getauscht hat, ist eine echte Herausforderung. Anne pölkt mit dem Messer ein paar Löcher in das Gebilde, das so zart ist, dass der dahinter liegende Käse – unter anderem ein köstlicher sächsischer Belsagio – golden durchschimmert.

Es heißt, Kurfürst August der Starke habe einst die hauchdünnen Fummeln anfertigen lassen. Zwischen Dresden und Meißen verkehrten regelmäßig Kuriere des Kurfürsten, die gern einen Schluck des bekannten Meißner Weins tranken, was ihnen im Sattel ihres Pferdes nicht so gut bekam. Daraufhin befahl der Kurfürst der Bäckerzunft zu Meißen, ein leicht zerbrechliches Gebäck herzustellen, das die Kuriere fortan bei sich tragen und bei der Ankunft in Dresden unversehrt vorzeigen mussten. Geschmacklich ließe sich die Fummel sicher durch die großzügige Beigabe von Gewürzen aufwerten, aber dann wäre sie eben nicht mehr die Alte. Und so beschließen Anne und ich, beim nächsten Mal lieber wieder auf die bewährte Eierschecke zurückzugreifen…

Wie still es in der Stadt ist! Ist dir das auch aufgefallen? fragt Anne. Vor allem Unterhaltungen scheinen irgendwie leiser geführt zu werden, leiser als in Hamburg oder Frankfurt beispielsweise. Diesen Eindruck hatte ich schon in der S-Bahn von Dresden nach Meißen gewonnen, aber für Zufall gehalten. Auch der junge Araber auf der Sitzbank gegenüber, mit dem ich mich während der Fahrt unterhielt, sprach leise. Ganz am Ende deutete er an, dass es nicht immer leicht sei in der Stadt. Umso mehr habe ich mich gefreut, als ich auf einem meiner Streifzüge durch die Meißner Gassen diesem Graffito begegnete:

Schon nach wenigen Tagen treffe ich auf der Straße die ersten „Bekannten“ wieder: die extravagante Frau in Rot und die alte Dame, mit der ich mich bei der Ausstellungseröffnung im Kunstverein unterhalten hatte. Freundlich nicken wir einander zu. Kleinstadt halt. Erinnerungen an diese besondere Mischung aus Geborgenheit und sozialer Kontrolle, wie ich sie einst in niedersächsischen Kleinstädten erlebt hatte, werden wach. Gleich darauf läuft mir der vermutlich schlechtestgekleidete Hund Meißens über den Weg… Ein buntes Städtchen!