Ein bisschen surreal fühlt es sich an, als wir uns der Stadt durch die Wüste nähern, die hier bis ans Meer reicht. Noch wabert ein Rest Morgennebel über dem endlosen Gelb. Fast jede Nacht, lese ich später, treibt der Wind Nebelbänke, die sich über dem kalten Benguelastrom weit draußen auf dem Atlantik bilden, über die Dünen ins Landesinnere. Manchmal bis zu 80 Kilometer weit. Meist lösen sich die Nebelschwaden im Laufe des Vormittags wieder auf.
Als wir gegen Mittag die Altstadt von Swakopmund erreichen, ficht gleißendes Sonnenlicht die letzte Schlacht des Tages gegen den Dunst, der sich bereits aufs Meer zurückgezogen hat. Das Gefühl des Unwirklichen will dennoch nicht weichen. All die wilhelminischen Giebel, all die Walmdächer, Jugendstilfassaden und Fachwerkbauten unter Palmen… unglaublich!
Altes Amtsgericht, Am Zoll, Schlachterei, Deutsche Oberschule lese ich auf den Gebäuden. Hundert Jahre ist die ehemalige kaiserliche Kolonie Deutsch-Südwestafrika nun schon Geschichte, aber in der vielleicht deutschesten Stadt südlich des Äquators pflegt man das Erbe.
Die alte Kaiser-Wilhelm-Straße wurde vor ein paar Jahren nach dem langjährigen Präsidenten und Gründungsvater der Republik Namibia in Sam Nujoma Avenue umbenannt, aber die Bismarckstraße gibt es bis heute. Dort steht eines der Wahrzeichen von Swakopmund: das Woermannhaus, Sitz der bedeutendsten Im- und Exportgesellschaft in Südwestafrika zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Schifffahrtslinie des Hamburger Kaufmanns und Reeders Adolph Woermann hatte schon 1894 den regelmäßigen Schiffsverkehr zwischen Europa und Afrika aufgenommen. Zwei Jahre zuvor hatte das deutsche Kanonenboot „SMS Hyäne“ nördlich der Mündung des Swakop eine mögliche Landestelle für die kaiserlichen Schiffe markiert – das 30 Kilometer weiter südlich gelegene Walvis Bay befand sich bereits in britischer Hand –, Swakopmund wurde gegründet. Nur einen Steinwurf vom Woermannhaus entfernt, an der ehemaligen Moltkestraße, steht das Hohenzollernhaus, das mit seiner neobarocken Fassade vielen als das prachtvollste Gebäude der Stadt gilt.
Im Café Anton an der Strandpromenade wird Apfelstrudel und Käsekuchen serviert. Beim Bäcker um die Ecke gibt es Schwarzbrot zu kaufen und in der Swakopmunder Buchhandlung deutschsprachige Bücher. Die Hansa Brauerei, die auf eine mehr als hundertjährige Tradition zurückblicken konnte, musste zwar 2005 ihre Pforten schließen, aber bis heute wird in Namibia nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut.
Zwischen ehemaliger Brauerei und Alter Kaserne springt mir die Fassade eines Gebäudes ins Auge, das ich kenne. Nicht in natura, ich war noch nie zuvor in Afrika, aber von Fotos und aus Erzählungen. „Es war Nacht, es war dunkel. Wer mich dorthin gebracht hat, weiß ich nicht mehr…“ Ursprünglich war das Prinzessin-Rupprecht-Heim als Lazarett für die Kaiserliche Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika errichtet worden. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurde es zum Erholungsheim umgebaut und erhielt seinen Namen zu Ehren von Marie Gabriele, Ehefrau des Prinzen Rupprecht von Bayern. Außer als Erholungsheim wurde das Gebäude in den folgenden Jahrzehnten auch als Entbindungsheim sowie als Kinder- und Schülerheim genutzt.
Anfang der 1940er Jahre kam die damals vierjährige Frau L., die mir 70 Jahre später aus ihrem Leben in Südwestafrika erzählen sollte, in das Haus. Ihr Vater war, wie auch zahlreiche andere deutsche Südwester, in einem Lager zwischen Johannesburg und der Diamantenstadt Kimberley interniert worden, nachdem sich die Mandatsmacht Südafrika im September 1939 gegen die Neutralität des Landes und für die Teilnahme am Zweiten Weltkrieg auf der Seite Großbritanniens entschieden hatte.
Heute ist das ehemalige Kinderheim ein Hotel. Natürlich dürfe ich mich umsehen, sagt die freundliche Dame an der Rezeption. Die Zimmer hinter den schweren Holztüren tragen die Namen süddeutscher Städte. Besonders schön ist es in dem großen innenhofartigen Garten hinter dem Haus. So grün. So still. Ganz hinten lächelt mich eine alte Dame im Rollstuhl an und fragt, ob ich mit zu den anderen kommen und die Zaunkönige füttern wolle. Und da sitzen sie, lauter alte Menschen in ihrer Welt. Für einen Moment schauen sie irritiert, als mit unserem Erscheinen die Vögel zu ihren Füßen auffliegen. Macht nichts, sagt die alte Dame, die kommen wieder.
Am nächsten Morgen ist die Stadt am Rande der Wüste abermals in atlantische Nebelschwaden gehüllt und ich frage mich, ob ich von der Begegnung mit den „Zaunkönigen“ womöglich nur geträumt habe. Später erfahre ich, dass das Hotel vorn und das Alten- und Pflegeheim im hinteren Trakt zusammen gehören.
Da haben wir Swakopmund bereits wieder verlassen, haben den Flamingos am Meer einen Besuch abgestattet und nur kurze Zeit später eine Kamel-Karawane getroffen…
