Von Verdrängung und Lüge

Der Roman beginnt mit einem Paukenschlag: Vor dem Haus der Römerin Ilaria Profeti taucht ein junger Äthiopier auf, der behauptet, ihr Neffe zu sein. Der Sohn eines Bruders, von dem Ilaria nichts wusste. Noch dazu: ein Geflüchteter. Der Junge spricht fließend Italienisch. Sein Pass ist ausgestellt auf den Namen Attilaprofeti. So heißt auch Ilarias Vater: Attilio, genannnt „Attila“ Profeti. Ihn kann sie allerdings nicht mehr befragen: Der inzwischen 95jährige ist dement.

So wendet sich Ilaria an ihre Mutter und die zweite Frau des Vaters. Stück für Stück deckt sie die verdrängte Geschichte und die vielen Lebenslügen des Attilio Profeti auf. Zugleich zeichnet der Roman ein schonungsloses Porträt Italiens im 20. Jahrhundert. Rassismus, Faschismus, Korruption und Bürokratie: Die langen Schatten der Geschichte reichen bis in die Gegenwart.

In seinem Umfeld galt Attilio Profeti als Widerstandskämpfer. Tatsächlich war er in den 1930er Jahren maßgeblich an den unfassbaren Gräueln der italienischen Besatzer im heutigen Äthiopien beteiligt. Profeti war einer von denen, die das „richtige Blut“ hatten. „Sangue giusto“ – so lautet der Titel des Buchs im Original. Das „richtige Blut“ schien es zu rechtfertigen, hunderttausende Männer, Frauen und Kinder auf jede erdenkliche bestialische Weise umzubringen. Es hinderte den jungen Attilio Profeti auf der anderen Seite nicht daran, eine Beziehung mit einer Abessinierin einzugehen.

Francesca Melandri ist mit „Alle, außer mir“ ein ebenso spannendes wie erschütterndes Dokudrama gelungen. Zu den Passagen, die mich besonders beeindruckt haben, zählt die mehrere Buchseiten lange minutiöse Schilderung des Irrwegs des äthiopischen Enkels durch Italien. Faszinierend und auf groteske Weise komisch: die Schilderung der Enttäuschung Attilio Profetis, bei aller Korruption offenbar nicht wichtig genug gewesen zu sein für eine Verhaftung. An anderen Stellen ist der 600 Seiten starke Roman etwas weitschweifig, gelegentlich fast schon geschwätzig. Die Autorin hat sorgfältig recherchiert, und sie mochte offenbar auf nichts verzichten. Nicht alle Schilderungen bringen die Geschichte aber wirklich voran – die vielen Seiten um Attilios Bruder Otello zum Beispiel sind m.E. komplett entbehrlich – und sie ist auch nicht immer besonders stringent erzählt. Die vielen Zeitsprünge passen zwar einerseits gut zum allmählichen Offenbarwerden des lange Verschwiegenen, machen andererseits aber auch die ein und andere Wiederholung notwendig.

Der deutsche Titel ist übrigens das Motto, das Attilio Profeti als kleiner Junge für sich gewählt hatte. Alle Menschen müssen sterben, hatte man ihm gesagt. „Alle, außer mir“, schwor er sich. Dass daraus am Ende nichts wurde, erfahren wir bereits auf der ersten Seite des Romans.

Francesca Melandri: Alle, außer mir. Roman, Berlin 2018. Übersetzung aus dem Italienischen von Esther Hansen.

Krieg in Äthiopien

Fünf Jahre ist es her, dass ich den Norden Äthiopiens bereisen durfte. Die Bilder, die sich in den Geralta-Bergen und im Simien-Gebirge tief in meinen Kopf und mein Herz prägten, kann ich jederzeit vor das innere Auge rufen. Die vielen Begegnungen mit Menschen in den Regionen Tigray und Amhara, sie wirken bis heute nach. Heute… heute herrscht dort Krieg.

Seit Wochen spitzt sich der Kampf zwischen der Zentralregierung von Ministerpräsident Abiy Ahmed und der Regierung der Region Tigray an der Grenze zu Eritrea zu. Am Wochenende meldete Abiy, dass die tigrinische Hauptstadt Mekele von der Armee erobert worden sei. Menschenrechtsorganisationen berichten von Massakern zwischen Angehörigen der Volksgruppen der Tigray und Amhara, bei denen es Hunderte zivile Opfer gegeben habe. Mehr als 40.000 Menschen sind bereits aus Tigray in den Sudan geflohen. Täglich werden es mehr. Telefon- und Internetverbindungen in der Region sind seit Wochen abgeschnitten. Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln wird immer kritischer.

Ein Land steht vor dem Zerfall. Dabei hatte es so viele Hoffnungen gegeben, als Abiy Ahmed 2018 die Regierung übernahm. Hoffnungen auf tiefgreifende Reformen, die in dem Vielvölkerstaat Äthiopien sehr lange niemand für möglich gehalten hatte. Anfang der 1990er Jahre hatten Rebellen aus Tigray das marxistische Militärregime gestürzt und waren danach für Jahrzehnte ins Zentrum der Macht gerückt, obwohl sie nur einen kleinen Teil der Bevölkerung stellen. Auch der verstorbene frühere Machthaber Meles Zenawi stammte aus der Region. Abiy hingegen gehört zum Volksstamm der Oromo, Äthiopiens größter ethnischer Gruppe. Er beendete den langjährigen Krieg mit dem Nachbarn Eritrea, er ließ mehr Offenheit zu, Dissidenten aus dem Ausland konnten zurückkehren. Erst vor einem Jahr erhielt Abiy den Friedensnobelpreis für seine Reformen am Horn von Afrika. Doch es gab auch schon früh Zweifel an seiner Fähigkeit, Frieden zu stiften. Gerade die Öffnungen, die Zerschlagung der alten repressiven Strukturen, sagen viele, hätten die schwelenden Konflikte zwischen den Ethnien noch befördert. Inzwischen, so scheint es, führt Abiy selbst ein zunehmend repressives Regiment. Das Fass zum Überlaufen gebracht hatte die Verschiebung der für August anstehenden Wahlen wegen der Covid-19-Pandemie. Da sich Abiy der Wahl verweigert habe, sei seine Regierung verfassungswidrig, befand die Volksbefreiungsfront von Tigray und ließ selbst Regionalwahlen abhalten, was wiederum Vertreter des Zentralstaats als verfassungswidrig bezeichneten.

Und während am Horn von Afrika alte Rechnungen beglichen werden und die Katastrophe anscheinend unaufhaltsam ihren Lauf nimmt, denke ich an die Menschen, denen wir auf unserer Reise begegneten – und ich frage mich, wie es ihnen heute gehen mag. Den vielen Kindern und Jugendlichen, die schon so früh Verantwortung tragen, ganz buchstäblich. Den Priestern, oft im Nebenberuf Bauern (oder war es umgekehrt?), die uns mitnahmen in ihre Kirchen zwischen den Felsen. Und all den anderen…

Meine alten Reiseberichte aus Äthiopien findest du unter der Rubrik „Reiseschnipsel“.

Afrikanisches Erbe

Als sie von Äthiopien erzählte, wurde der alte Mann ganz aufmerksam. Vergessen waren die Klagen über den beschwerlich gewordenen Alltag. Als sei es gestern gewesen, fiel das faschistische Italien in das ostafrikanische Kaiserreich Abessinien ein. 1935 war das, der alte Mann noch ein Junge. Am Radio verfolgte er, wie die Ras, die abessinischen Fürsten, abgeschlachtet wurden. Hunderttausende sollten ihnen folgen, bis das Land endlich von britischen und abessinischen Truppen befreit wurde. Dem alten Mann blieb die Erinnerung an die Ras und eine Empörung, die in 80 Jahren nicht schwächer geworden zu sein scheint.

Von dort war es nur ein Sprung bis zu Afrika-Meyer. Den nannten sie so, um ihn von den anderen Meyer im Ort zu unterscheiden: Von Kanonen-Meyer, dessen Söhne ständig in irgendwelche Schlägereien verwickelt waren. Von Meyer 13, der so viel Pech hatte. Afrika-Meyer, erzählte der alte Mann, war unter Lettow-Vorbeck an der Niederschlagung des Herero-Aufstands im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika beteiligt gewesen, dem ersten Völkermord im noch jungen 20. Jahrhundert. Meyer sprach nicht über die Zeit. So viel weiß der alte Mann noch.

Berge, Affen und eine Lok

P1120336Teil zwei des Trekkings im nordäthiopischen Simien-Gebirge,
in dem wir den Wolken mit jedem Schritt näher kommen

Wer früh schlafen geht, wird zeitig wach. Als ich das erste Mal die Nase aus dem Zelt stecke, ruht die Sonne noch hinter den Bergen. Die Bodentemperaturen dürften nicht wesentlich über dem Gefrierpunkt liegen. Raureif bedeckt das Gras auf der Hochebene, und der Schlafsack ist feucht, zum Glück nur von außen. Ein dienstbarer Geist hat eine kleine Schüssel warmen Wassers vor den Eingang gestellt. Ich kann mir nichts Schöneres denken – abgesehen von den leckeren Eierspeisen vielleicht, die der Koch gerade für uns brutzelt. Boiled, scrambled, fried, one side oder auch both, ganz wie es beliebt.

P1120347Bald schon machen wir uns auf den Weg zu den Klippen von Imet Gogo. Zum ersten Mal kratzen wir an der 4000-Meter-Grenze. Die Luft wird spürbar dünn, der Atem und die Beine schwer. Noch immer hängen Wolken und Nebel in den Schluchten. Aber wer wollte bestreiten, dass der Landschaft auch das geheimnisvoll Vage, leicht Melancholische gut zu Gesicht steht?

P1120397Kaum zurück im Camp, reicht die Zeit gerade noch für eine Katzenwäsche im eiskalten Jinbar River. Dann bricht auch schon heftiger Regen über uns herein. Ich verbringe Stunden lesend im Zelt. Draußen ist es so nass, dass man keinen Hund vor die Wellblechhütte jagen würde, in der der Koch wieder einmal Wunder vollbringt. Die Laune einiger meiner Reisegefährten befindet sich im freien Fall, die Guides inspizieren mit sorgenvoller Miene die Zelte.

P1120418Bevor die Bodenplanen ganz durchweicht sind, hat der äthiopische Regengott glücklicherweise ein Einsehen. Und so stimmungsvoll das leicht Dräuende ist: Klare oder doch beinahe klare Sicht mindert die Schönheit der Simien Mountains gewiss nicht, wie wir am nächsten Tag auf der Wanderung zum Chennek Camp feststellen, wo wir die beiden folgenden Nächte verbringen wollen.

P1120448Über endlose Grasebenen mit Riesenlobelien führt der Weg. Dazwischen Abschnitte mit Busch. Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich Erika, die an Bäumen wächst. Lange Bartflechten zwischen den Zweigen künden von der Reinheit der Luft.

P1120453Vom Inatye mit seinen gut 4000 Metern öffnet sich der Blick über Anhöhen und Schluchten, die sich am Vortag noch ziemlich bedeckt hielten. Von einem vorgelagerten Hügel dringt leise Flötenmusik zu uns herauf. Spielen die Hirten für sich oder bringen sie uns Touristen ein Ständchen? Einen Teil meines Käsesandwichs verfüttere ich an die schwarzen Krähenvögel mit den imposanten Krummschnäbeln, die ähnlich zutraulich sind wie die Bergpapageien, die in den neuseeländischen Alpen jeden Gipfelstürmer persönlich begrüßen.

P1120478Aber nicht nur schwarze Vögel kreuzen unseren Weg, sondern auch Horden sandfarbener Affen. Von weitem wirken sie wie Steine auf einer Wiese: Dutzende, manchmal Hunderte von Dscheladas, die es nur im äthiopischen Hochland gibt, hocken im gelblichen Grün und stopfen inbrünstig ein Grasbüschel nach dem anderen in die nimmersatten Mäuler.

P1120532Die größeren Männchen tragen eine Löwenmähne, die kahle Brust ist leuchtend rot. Das soll den Weibchen Potenz signalisieren – zugegeben: rote Hinterteile wären bei dieser ausdauernd sitzenden Spezies wenig praktisch – und trug den Tieren auch den Namen „Blutbrustpaviane“ ein.

P1120457Nach mehreren hundert Metern Steilabstieg erreichen wir schließlich das Camp am Rande einer gewaltigen Schlucht. Gleich nach der Verteilung der Zelte suche ich mir einen Platz am Abgrund und schaue zu, wie sich die Wolken in immer neuen Formationen vor die Hänge schieben, wie Felsen und Klippen im weicher werdenden Licht des Spätnachmittags allmählich zu einer Mondlandschaft werden.

P1120549Die größte Herausforderung der Tour wartet am nächsten Tag auf uns: der Aufstieg auf den Bwahit. Mehr als 800 Höhenmeter sind bis zu seinem 4430 Meter hohen Gipfel zu bewältigen, und das nach einer wenig schlafintensiven Nacht. Meine Beine sind schwer wie Blei. Schon bald keuche ich wie eine alte Dampflokomotive, falle nach und nach ein ordentliches Stück hinter die Gruppe zurück. Den Fotoapparat zücke ich vor allem, weil das Bildermachen mir erlaubt, für einen Moment innezuhalten und nach Luft zu schnappen.

P1120555Irgendwann verzichte ich auch auf diese Rechtfertigung, bleibe einfach alle 20 bis 30 Schritte stehen, schaue unbestimmt in die Ferne und hechle, bis sich genügend Luft für die nächsten Schritte in den Lungenfügeln gesammelt hat. Der Scout, der den „Lumpensammler“ macht, wird zu meinem Personal Guide. Geduldig wartet er und lächelt mir aufmunternd zu, wenn die Kräfte wieder einmal zu erlahmen drohen.

P1120561Schließlich erreiche auch ich den Gipfel, kaum 15 Minuten später als die anderen und stolz wie Bolle. Ein Siegerfoto mit Guide und Scout darf da natürlich nicht fehlen.

P1120568Das Gefühl, es geschafft zu haben, ist großartig. Ebenso wie der 360-Grad-Blick über das „Dach Afrikas“, auch wenn es von da oben gar nicht so hoch aussieht – die umliegenden Gipfel sind ja ebenfalls Viertausender. Aber mein allerliebster Ort in den Simien Mountains liegt wohl doch irgendwo in den Hängen und Klippen um Chennek Camp. Da ließe ich mich gern noch einmal nieder, um eine lange Weile auf das steinerne Meer aus Blaugrüngelbgrau zu blicken, während hoch oben, vollkommen schwerelos, eine Gruppe Lämmergeier segelt. So majestätisch, so überirdisch schön, dass es beinahe schon weh tut.

P1120526Und im letzten Licht des Tages würde mir bestimmt wieder einer der seltenen abessinischen Steinböcke über den Weg laufen…

P1120602Mit diesen Aussichten beende ich meine virtuelle Reise durch das äthiopische Hochland. Danke für Ihr und euer Interesse.

Von Dächern und Menschen

P1120215Aus unserem Hotel fällt der Blick auf graue Wellblechdächer und ebenso graue Betondecken im Rohbau, auf denen noch die Lachen von den Wolkenbrüchen der vergangenen Nacht stehen. Wasserdampf und der Rauch der morgendlichen Holzfeuer vermengen sich zu einer bläulichen Dunstglocke, die tief über dem Städtchen hängt, das wohl kaum ein Äthiopien-Reisender um seiner selbst willen besucht. Debark knappe hundert Kilometer nördlich der alten Kaiserstadt Gondar ist kein Ort zum Verweilen. Jedenfalls nicht im Regen. Aber es gibt dort alles, was man für den Simien Mountains Nationalpark braucht, der wiederum jeden Besuch lohnt.

P1120226Die letzte heiße Dusche für mehrere Tage zum Beispiel. Dann heißt es Gepäck trennen in Mitzunehmendes und Einzulagerndes, während sich Reiseleiter und Koch um die Zelte und den Proviant kümmern. Eintrittskarten erhalten wir im Parkhauptquartier. Den ortskundigen Führer und zwei Scouts mit Maschinenpistolen, die uns auf unserer Trekkingtour durch die Berge begleiten werden, lesen wir unterwegs auf. Und mit ihnen den würzigen Geruch von verbranntem Holz, den auch wir mit jedem Tag mehr am offenen Feuer immer stärker annehmen werden. Der bewaffnete Begleitschutz ist vorgeschrieben, obwohl es im Simien-Gebirge bisher noch keine Überfälle auf ferenji, wie wir Ausländer genannt werden, gab.

P1120311Im Sankaber Camp lädt unser Begleitteam Zelte, Schlafsäcke, Kochutensilien und andere Ausrüstungsgegenstände auf Maultiere, während wir nur mit Tagesrucksäcken auf dem Rücken zum Gich Camp, unserem ersten Etappenziel, aufbrechen. Nicht lange, und wir stehen das erste Mal am Abgrund. Wie ein Warnsignal markieren einzelne gelb-orange Aloe-Vera-Blüten die Abbruchkante, von der es sicher ein paar hundert Meter senkrecht nach unten geht. Hu, nur nicht zu nah herantreten!

P1120260Vulkanausbrüche, Wind und Wasser haben in Millionen von Jahren diese einzigartige Hochgebirgslandschaft aus schroffen Felsen, steilen Klippen und tiefen Schluchten geformt, von der ich träumte, seit ich sie das erste Mal auf den atemberaubenden Schwarzweiß-Fotografien des Brasilianers Sebastião Salgado sah. Nirgendwo sonst in Afrika gibt es ein zusammenhängendes Bergmassiv mit so vielen hohen Gipfeln wie die Simien Mountains, die deshalb auch das „Dach Afrikas“ genannt werden. Mehr als zwanzig ihrer Gipfel überschreiten die 4000er-Marke, der höchste ist der Ras Dashen mit 4533 Metern. Wenn alles gut geht, wollen wir in ein paar Tagen den 4430 Meter hohen Bwahit bezwingen.

P1120262Einen der höchsten Wasserfälle des Nationalparks müssen wir uns an diesem Tag denken. Er ist in den Nebelschwaden, die die Schlucht vor uns komplett verschluckt haben, zwar deutlich zu hören, aber leider nicht zu sehen.

P1120286Auf dem Weg hinauf zum Camp und dem Dorf etwas unterhalb kommen uns immer wieder kleinere Gruppen Einheimischer mit und ohne Maultiere, mit und ohne Schafe, aber immer mit einem freundlichen salam! („Frieden“) entgegen. Wie das Wasser, das sich von überallher seinen Weg hinab zum Tana-See bahnt, scheinen auch die Menschen von den hoch gelegenen Siedlungen hinunter zu den Straßen und Feldern zu strömen, die die Berghänge wie Flickenteppiche bedecken.

P1120303Die Leichtigkeit, mit der sie über die weit auseinander liegenden glitschigen Steine im Jinbar River hüpfen, verrät einige Übung. Etwas weniger anmutig, aber weitgehend trockenes Fußes gelingt es auch uns, den Fluß zu queren.

P1120308Vor uns erhebt sich Gich Village. Das Dorf, das mit seinen traditionellen strohgedeckten Rundhütten wie eine afrikanische Bilderbuch-Siedlung aussieht und irgendwie auch so, als sei es immer schon da gewesen, wird es wohl nicht mehr lange geben. Im kommenden Jahr sollen seine Bewohner in die Nähe von Debark umgesiedelt werden, um dem ausschließlich in den Simien Mountains beheimateten abessinischen Steinbock mehr Raum zur Entfaltung zu geben. Nur etwa 500 Exemplare dieser vom Aussterben bedrohten Art soll es noch geben. Ob es den Menschen gelingen wird, am neuen Ort Fuß zu fassen?

P1120307In einer Hütte oberhalb des Dorfs suchen wir für einen Augenblick Schutz vor dem Regen, der uns seit der Flussquerung begleitet. Beinahe gleichzeitig bricht schon wieder die Sonne durch und pinselt einen phantastischen Regenbogen an den Rundhorizont.

P1120317Dann ist das Camp erreicht, 3600 Meter über dem Meeresspiegel. Die Zelte sind bereits aufgebaut, wir müssen nur noch einziehen. Mit einem Becher heißen Tee in der Hand schaue ich zu, wie die Sonne die Hochebene in ein fast unwirklich goldenes Licht taucht. Ein wenig abseits der Gruppe ist es ganz still, nur die Schönheit der Landschaft spricht.

P1120326Als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist, schweigt auch sie. Mit der Dunkelheit bricht schlagartig eisige Kälte herein. Nach einem frühen Abendessen kriechen wir rasch in unsere warmen Schlafsäcke. Die Scouts, die Waffe immer in der Hand, kauern in Decken am Rand der Kochhütte, wenn sie nicht gerade zwischen den Zelten nach dem Rechten sehen.

P1120330Fortsetzung folgt

… und uns anlehnen

P1120757Man muss weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir stünden fest.
Man muss den Atem anhalten,
bis der Wind nachlässt
und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,
bis das Spiel von Licht und Schatten,
von Grün und Blau
die alten Muster zeigt
und wir zu Hause sind,
wo es auch sei,
und niedersitzen können und uns anlehnen
als sei es das Grab
unserer Mutter.

Hilde Domin: Ziehende Landschaft

P1120772Die Bäume, deren Wurzeln ich auslieh, um Hilde Domins Betrachtungen über Heimat und Fremde ein Gesicht zu geben, stehen etwas außerhalb der äthiopischen Kaiserstadt Gondar in einem Garten, der von einer starken Mauer umgeben ist. Mitten darin befindet sich ein Bassin und in dem Bassin ein Wasserschloss aus dem 17. Jahrhundert: das Bad von Kaiser Fasilidas. Das Bassin ist das ganze Jahr über leer. Nur zum Timkat-Fest, dem äthiopisch-orthodoxen Fest der Taufe Jesu im Januar, wird es gefüllt. Sobald der Bischof das Wasser geweiht hat, stürzen sich Kinder von den Bäumen am Rand hinein. Manchmal, so hörte ich, würde dabei auch ein neugieriger Japaner samt Kamera mitgerissen. Und dann ist wieder Ruhe.

P1120768

Momente der Einkehr

P1120973Suche die Stille – in der Natur, in einer Bibliothek oder einer Kirche.

(unbekannter Verfasser)

P1120914Horche auf das, was man hört,
wenn man nichts mehr vernimmt.

(Paul Valéry)

P1120926Es gibt eine Stille, in der man meint, man müsse die einzelnen Minuten hören, wie sie in den Ozean der Ewigkeit hinuntertropfen.

(Adalbert Stifter)

P1120956Wer die Stille ertragen kann, ist niemals allein.

(unbekannter Verfasser)

P1120700Die Fotos, mit Ausnahme des letzten, sind in den Felsenkirchen im äthiopischen Lalibela entstanden, von denen ich hier schon erzählt habe.

Allen, die hier vorbeischauen, lesen, Bilder betrachten und ihre Gedanken dalassen, ein herzliches Dankeschön für euer und Ihr Interesse, schöne Feiertage und einen guten Start ins neue Jahr – möge es uns immer wieder Momente der Stille und inneren Einkehr schenken!

Der Tanz der Priester

P1130219Von unserem Platz an der Felskante aus sehen wir zu, wie sich der Hof von Bete Maryam, dem „Haus Marias“, ein paar Meter unter unseren Füßen langsam mit Gläubigen füllt. Etliche der in weiße Tücher gehüllten Gestalten strecken sich sogleich auf dem Boden aus. Die Feier zum Abschluss der Fastenzeit wird bis zum Morgengrauen dauern. Zwischen den Pilgern Priester in schwarzen Umhängen und weißem Turban auf dem Kopf und Männer in weißen Mänteln mit einem dicken roten Balken im unteren Teil. Das sind die Debteras, die in der äthiopischen Kirche für die Musik und den rituellen Ablauf des Gottesdienstes zuständig sind. Später werden auch noch gelbgewandete Herren dazustoßen: die Weihrauch- und Schirmträger, die die Bundeslade in einer Prozession um die Kirche herumtragen.

P1130205Ungezählte Küsse treffen das Handkreuz des obersten Priesters direkt unter meinem Logenplatz. Der hält aber nicht nur Audienz, sondern leitet auch einen Teil der Wechselgesänge an, in denen es vor allem um das Leben der Jungfrau Maria zu gehen scheint. Immer wieder fällt ihr Name: Maryam – traurig und getragen zunächst, dann schneller im Rhythmus, gelegentlich unterbrochen von Jubelschreien. Die Priester beginnen zu tanzen. Begleitet vom Trommeln der Debteras bewegen sie in zwei einander gegenüberstehenden Gruppen mal nur den Rumpf, während ihre Füße fest auf dem Boden stehen, dann wieder fließen die beiden Reihen, Wellen gleich, als ganze vor und zurück. In der linken Hand halten die Priester den langen Gebetsstab, mit dem sie während der Wechselgesänge auf den Boden stampfen, die rechte bewegt sich langsam mit dem Sistrum, einer Art Rassel, zur Musik. Magische Momente am Ende eines langen Tages zwischen den Monolithkirchen von Lalibela, die als Weltkulturerbe unter dem Schutz der Unesco stehen.

P1120981Alles an diesen Kirchen ist einfach phantastisch. Das fängt schon mit ihrer Entstehung an, die sich der Legende nach einem Traum verdankt – und der tätigen Mitwirkung von Engeln: Im 12. Jahrhundert versuchte König Harbay, seinen jüngeren Bruder Lalibela zu vergiften. Doch der fiel nur in einen dreitägigen Schlaf. Im Traum erschien ihm Gott und wies ihn an, in Äthiopien ein zweites Jerusalem zu errichten. Als Lalibela wieder erwachte, dankte Harbey ab und überließ seinem Bruder den Thron. Der tat, wie ihm geheißen, und begann, Kirchen in den roten Tuffstein der Stadt zu schlagen, die damals noch Roha hieß. Und weil die Arbeit tagsüber nur schlecht vorankam, schickte Gott Nacht für Nacht einen Trupp Arbeitsengel zur Unterstützung. So entstanden im Laufe der vierzigjährigen Herrschaft von König Lalibela (ca. 1167 bis 1207) in den Bergen von Lasta insgesamt elf Kirchen, wie es sie an keinem anderen Ort der Welt gibt. Vielleicht steht ihre Errichtung auch im Zusammenhang mit dem Ende der Kreuzzüge. Nachdem der ägyptische Sultan Saladin 1187 das Kreuzfahrerheer des Königreichs Jerusalem besiegt und die Stadt Jerusalem erobert hatte, verschlechterten sich die Möglichkeiten für Christen, dorthin zu pilgern. Das könnte den äthiopischen Herrscher veranlasst haben, einen schon begonnenen Komplex von Felsenkirchen zu einem neuen Jerusalem umzugestalten.

P1120953Ich bin sehr geneigt, der Geschichte mit den Engeln Glauben zu schenken. Und das keineswegs nur, weil man in Äthiopien, wo sich Geschichts- und Geschichtenschreibung oft auf das Schönste miteinander verbinden, irgendwann selbst aufhört, scharf zwischen beidem zu trennen, sondern vor allem, weil dieses Meisterwerk ohne übermenschliche Hilfe eigentlich gar nicht vorstellbar ist. Schließlich standen den Arbeitern vor mehr als 800 Jahren weder Steinbohrer noch Sprengstoff zur Verfügung. Nur mit Hammer und Meißel schlugen sie gewaltige Basiliken, Kirchen und Kapellen aus dem Fels. Bete Medhane Alem zum Beispiel, das „Haus des Weltenerlösers“. Die schiere Wucht dieser größten Felsenkirche von Lalibela kann einen umhauen: 33,50 Meter lang, 23,50 Meter breit und bis zu 11,50 Meter hoch, die Mauern im Schnitt zwei Meter dick. Nur die alte Kathedrale von Axum, die wichtigste Kirche des äthiopischen Christentums, war größer. Entstanden ist Bete Medhane Alem wie die anderen zehn Felsenkirchen von oben nach unten und von außen nach innen:

P1120917Zuerst legten des Königs Steinmetze riesige monolithische Blöcke frei, meißelten Säulen und Kapitelle, Fassaden und Ornamente aus dem harten Stein heraus. Anschließend wurden die Quader ausgehöhlt, Gewölbe und Hallen entstanden, Altäre, Bögen und allerlei Kreuze und dazu ein System aus Tunneln und Gängen, in dem man leicht die Orientierung verlieren kann. Was aber im Grunde nicht viel ausmacht, solange man sich zumindest merkt, vor welchem der Heiligtümer man zuletzt seine Schuhe ausgezogen hat, die ein Schuhaufpasser gegen einen kleinen Obolus gern bewacht, während man selbst barfuß oder auf Strumpfsocken in das nächste Halbdunkel eintaucht.

P1120992Die Magie der Felsenkirchen von Lalibela lässt sich mit Worten nur schwer beschreiben. Besser, man erlebt sie mit eigenen Sinnen. Als wir unseren Rundgang beginnen, geht im „Haus des Weltenerlösers“ gerade der Gottesdienst zu Ende. Gläubige, in ein stilles Gebet vertieft, berühren ehrfürchtig die Wände der gewaltigen Basilika. Durch die kreuz- und schlüssellochförmigen Fenster fällt ein wenig Tageslicht.

P1120949Priester studieren uralte Schriften, auch ihre Gesichter unter dem weißen Turban wirken wie aus Stein gemeißelt. Pilger in weißen Gewändern wandeln durch die Gänge, allein, zu zweit, in Gruppen. Durch den Tunnel zu Bete Maryam vielleicht, der von außen eher schlichten, dafür von innen umso reicher geschmückten Marienkirche, zu der wir in der Nacht noch einmal zurückkehren werden, um die Priester tanzen zu sehen. Aber zuvor streifen wir weiter durch das Felslabyrinth dieses zweiten Jerusalem, queren das Bett des Jordan, der nur in der Regenzeit Wasser führt, bis wir auf einem kargen Felsplateau etwas abseits von den anderen Kirchen unvermittelt vor einem riesigen Loch stehen, mitten darin ein Klotz in der Form eines griechischen Kreuzes. Bete Gyorgis, die Kirche des Heiligen Georg. Genauer: die kreuzförmige steinerne Oberseite von Bete Gyorgis, höhengleich mit dem roten Fels, aus dem die Kirche einst herausgemeißelt wurde. Der Rest liegt von unserem Standort aus im Schatten. Erst von der gegenüberliegenden Seite zeigt sich die wunderbar harmonische Struktur dieser letzten und vielleicht perfektesten Felsenkirche Lalibelas in ganzer Pracht.

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Faces of Tigray

P1110952Über die nördlichste Provinz Äthiopiens habe ich hier und hier schon geschrieben. In Tigray wird nicht nur eine eigene Sprache gesprochen, auch äußerlich unterscheiden sich die Menschen von den Amharen weiter südlich. Frauen und Mädchen tragen fein geflochtene, eng am Kopf anliegende Zöpfe, die zu einem buschigen Pferdeschwanz gebunden werden und oft herrlich glänzen. In meinem Reiseführer las ich, dass unverheiratete Frauen die Haare von einem Mittelscheitel aus in mehreren Reihen seitwärts und die Haare vom Oberkopf nach hinten geflochten trügen, während verheiratete Frauen alle Haare von der Stirn aus in Dutzenden von Zöpfen streng nach hinten flechten würden. Alex, unser Guide, mochte das auf Nachfrage nicht bestätigen. Auch mir selbst schienen aus der Haartracht abzuleitende Informationen zum Familienstand nicht über jeden Zweifel erhaben zu sein.

P1110583Dem Mädchen auf dem Foto ganz oben wird gerade ein Baby auf den Rücken gebunden, die Kleine auf dem zweiten Bild trägt die Verantwortung für gleich zwei jüngere Geschwister. Das sieht man viel, nicht nur in Tigray. Auch Sachen schleppen ist in Äthiopien weitgehend Aufgabe von Frauen und Mädchen: Lebensmittel und Brennholz, Baumaterialien und – most important of all – Wasser, das in gelben Plastikkanistern vom oft weit entfernten Brunnen geholt wird. In vielen Haushalten fehlt es an fließendem Wasser, längst nicht alle Hütten und Häuser sind an die Kanalisation angeschlossen. Ich staunte immer wieder, wie frisch die aus weißem Baumwollstoff gefertigte traditionelle Kleidung der Hochlandäthiopier trotzdem aussah.

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Barfuß in den Adlerhorst

P1110670Vorbei an rötlichen Gehöften führt unser Weg in die gleichfarbigen Sandstein-Anhöhen der Geralta-Berge, das äthiopische „Monument Valley“. Wieviel schöner sind doch diese oft von Steinmauern umgebenen Gebäude als die vielen Wellblechhäuser, die wir in Addis Abeba sahen.

P1110632Stein auf Stein aufgeschichtet und ohne Mörtel kunstvoll zusammengefügt. Wenn man näher herankommt, erkennt man, dass die Ritzen mit Lehm und dem getrockneten Dung der Tiere ausgestopft sind, die zwischen den tef-Feldern, einem nur in Äthiopien vorkommenden Brotgetreide, oder unter einem der uralten Feigenbäume geweidet werden.

P1110659Durch einen Canyon steigen wir zur Kirche Maryam Papaseyti auf. Links und rechts ragen steile Steinwände in den Himmel. Vor einem verschlossenen Tor heißt es warten, bis der Priester von der Feldarbeit herbeieilt. Ich vermute, dass die meisten Priester der äthiopisch-orthodoxen Kirche nebenher Bauern sind, denn sie finanzieren sich heute vor allem aus Spenden.

P1110753Maryam Papaseyti ist von außen sehr schlicht, liegt aber malerisch unter einem Felsüberhang. Ihr Allerheiligstes ist in den Fels gehauen, der Rest gemauert. Wunderbar farbenfrohe biblische Malereien aus dem 17. und 18. Jahrhundert schmücken die Wände. Die fein gemeißelten Gesichtszüge des Priesters, der mit einer Kerze in der Hand dekorativ an einer Mauer lehnt oder sich in einer der Nischen auf seinen Gebetsstab stützt, begeistern mich nicht minder.

P1110762Felsenkirchen findet man im gesamten äthiopischen Hochland und auch jenseits der Grenze in Eritrea. Ihre Zahl wird auf etwa 150 geschätzt. Die ältesten lassen sich bis in das 8. Jahrhundert zurückverfolgen. Die wohl bekanntesten sind die phantastischen Felsenkirchen in Lalibela, die vor mehr als 800 Jahren jeweils von oben nach unten aus einem einzigen riesigen Tuffsteinblock herausgeschlagen wurden. Von ihnen werde ich ein anderes Mal erzählen. Heute bleiben wir in den Geralta-Bergen:

P1110681Früh am Morgen nähern wir uns dem Massiv aus rotem Sandstein ein weiteres Mal, queren das Flussbett, das jetzt in der Trockenzeit kaum Wasser führt, um zu einer der am schwersten zugänglichen Kirchen des Landes aufzusteigen. Hoch oben in den noch schattigen Felsen, da, wo sich zwischen zwei steinernen Nadeln ein großes „V“ öffnet, soll sie liegen: Abuna Yemata Guh. Von hier unten ist nichts zu erkennen. Auf einem immer steiler werdenden Pfad wandern wir bergauf, gewinnen rasch an Höhe.

P1110845Bald schon stehen wir vor einer senkrechten Felswand. Da müssen wir hoch. Ab jetzt barfuß, denn der Fels ist heilig und darf nicht mit Schuhen betreten werden. Aber immerhin angeseilt. Hui, das ist sportlich! Dennoch zögere ich nicht, zu groß ist meine Neugier. Unsere einheimischen Begleiter zeigen uns Tritte, Griffe und Spalten im Stein, an denen wir uns beim Aufstieg festhalten, in die wir die Füße setzen können.

DSC_0932Ich konzentriere mich darauf, immer zwei Hände und einen Fuß oder aber zwei Füße und eine Hand am Fels zu haben. Das klappt besser als gedacht. Bald schon habe ich eine wenige Quadratmeter kleine Plattform erreicht, von der aus es ohne Seil weiter nach oben gehen wird. Aber erst einmal genieße ich die Aussicht auf „Marlboro Country“ und schaue zu, wie meine Gefährten oder doch die meisten von ihnen nachklettern.

P1110863Der heikelste Teil des Aufstiegs steht uns da noch bevor: Um zum Eingang der Kirche zu gelangen, müssen wir die Felsnadel in schwindelnder Höhe ein Stück umrunden – auf einem vielleicht einen halben Meter breiten Sims, rechts die glatte Felswand, links nichts als der Abgrund, mehrere hundert Meter tief. Nur nicht hinunter sehen!

P1110884Noch jetzt ist mir vollkommen rätselhaft, wie ich, die immer mit Höhenangst zu tun hatte und noch der harmlosesten Fahrt im Sessellift einen schweißtreibenden mehrstündigen Aufstieg vorzog, diese Klippe bewältigen konnte.

P1110886Durch eine Öffnung im Fels gelange ich vom Sims in den Vorraum der Kirche. Auf dem Boden vor der Holztür hockt schon der Priester, der uns in Plastiksandalen leichtfüßig wie eine Bergziege vorangeeilt war.

P1110888Als er die schwere Tür öffnet, fällt ein Lichtstrahl in die nur vom Schein unserer Stirnlampen erleuchtete Grotte. Wow! Ein Ort wie aus der Zeit gefallen. In der Höhlenkirche gibt es drei Kuppeln, die in kräftigen Farben mit den Bildern heiliger Männer bemalt sind. Abuna Yemata, einer der Neun Heiligen, die im 6. Jahrhundert die endgültige Verbreitung des Christentums im Land vollbracht haben sollen und nach der Legende zugleich Gründer dieses Gotteshauses im Fels, ist an einer der Wände zu Pferde dargestellt. Alle Malereien stammen vom Ende des 15. Jahrhunderts. Ungefähr aus dieser Zeit datiert auch die ziegenpergamentene Bibel unter dem Pult, die der Priester aus einem Lederschuber zieht und aufschlägt. Geschrieben ist sie im altäthiopischen Ge’ez, das heute nur noch Geistliche sprechen. Was für eine Pracht!

P1110909Alles an diesem Ort ist alt. Nur der Priester ist jung, erstaunlich jung. Später, als ich neben ihm auf dem Felsvorsprung darauf warte, für den Abstieg angeseilt zu werden, verrät mir der gerade einmal 25-Jährige, dass er sein Amt in dieser traumschönen Kirche, dem Himmel so nah, auch dem Umstand zu verdanken habe, dass der Aufstieg für alte Priester einfach zu beschwerlich sei. Offenbar aber nicht für Eltern mit Säuglingen. Denn Taufen fänden in diesem „Adlerhorst“ durchaus statt. Der Äthiopier: nicht nur der geborene Marathoni, sondern anscheinend zugleich ein begnadeter Kletterer. Mit vielen helfenden Händen schaffen auch wir sicher wieder den Abstieg.

P1110802 Wer Lust auf noch ein bisschen schaurig-schönes Schwindelgefühl hat, mag einen Blick in dieses Video eines Lonely Planet-Fotografen über seinen Aufstieg zur Kirche Abuna Yemata Guh werfen. So tief wie der habe ich mich nicht in den Abgrund zu blicken getraut.

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