Mit Bäumen reden

… und die ewigen Bahnen
Lächelnd über uns hin zögen die Herrscher der Welt,

Sonne und Mond und Sterne, und auch die Blitze der Wolken
Spielten, des Augenblicks feurige Kinder, um uns,
Aber in unsrem Innern, ein Bild der Fürsten des Himmels,
Wandelte neidlos der Gott unserer Liebe dahin,

Und er mischte den Duft, die reine, heilige Seele,
Die, von des Frühlinges silberner Stunde genährt,
Oft überströmte, hinaus ins glänzende Meer des Tages,
Und in das Abendrot und in die Wogen der Nacht,

Ach! wir lebten so frei im innig unendlichen Leben,
Unbekümmert und still, selber ein seliger Traum,
Jetzt uns selber genug und jetzt ins Weite verfliegend,
Aber im Innersten doch immer lebendig und eins.

Glücklicher Baum! wie lange, wie lange könnt ich noch singen
Und vergehen im Blick auf dein erbebendes Haupt,
Aber siehe! dort regt sichs, es wandeln in Schleiern die Jungfraun
Und wer weiß es, vielleicht wäre mein Mädchen dabei;

Laß mich, laß mich, ich muß – lebwohl! es reißt mich ins Leben,
Daß ich im kindischen Gang folge der lieblichen Spur,
Aber du Guter, dich will, dich will ich nimmer vergessen,
Ewig bist du und bleibst meiner Geliebtesten Bild.

Und käm einmal ein Tag, wo sie die meinige wäre,
O! dann ruht ich mit ihr, unter dir, Freundlicher, aus
Und du zürnetest nicht, du gössest Schatten und Düfte
Und ein rauschendes Lied über die Glücklichen aus.

Friedrich Hölderlin: An einen Baum

Vor tausend Jahren schon

Oft weiß ich ganz genau: Ich … war … einmal;
Ich habe schon einmal all dies gesehn;
Der Baum vor meinem Fenster rauschte mir
Ganz so wie jetzt vor tausend Jahren schon;
All dieser Schmerz, all diese Lust ist nur
Ein Nochmals, Immerwieder, Spiegelung
Durch Raum und Zeit. – Wie sonderbar das ist:
Ein Fließen, Sinken, Untertauchen und
Ein neu Empor im gleichen Strome: Ich
Und immer wieder ich: Ich … war … einmal.

Otto Julius Bierbaum (1865-1910): Ich … war … einmal

A kiss is still a kiss

Wie? du kannst nicht mehr küssen?
Mein Freund, so kurz von mir entfernt,
Und hast’s Küssen verlernt?
Warum wird mir an deinem Halse so bang?
Wenn sonst von deinen Worten, deinen Blicken
Ein ganzer Himmel mich überdrang,
Und du mich küsstest, als wolltest du mich ersticken.
Küsse mich!
Sonst küss‘ ich dich!

Johann Wolfgang von Goethe, „Faust“ (Der Tragödie erster Teil, Kerker, Margarete zu Faust)

In Zeiten wie diesen überkommen eine einsame Waldläuferin bisweilen gar seltsame Assoziationen…

So bunt

„Lassen Sie mich ein Gleichnis gebrauchen, das Gleichnis vom Baum. Der Künstler hat sich mit dieser vielgestaltigen Welt befaßt, und er hat sich, so wollen wir annehmen, in ihr einigermaßen zurechtgefunden; in aller Stille. Er ist so gut orientiert, daß er die Flucht der Erscheinungen und der Erfahrungen zu ordnen vermag. Die Orientierung in den Dingen der Natur und des Lebens, diese vielverästelte und verzweigte Ordnung möchte ich dem Wurzelwerk des Baumes vergleichen.

Von daher strömen dem Künstler die Säfte zu, um durch ihn und durch sein Auge hindurchzugehn.

So steht er an der Stelle des Stammes. Bedrängt und bewegt von der Macht jenes Strömens, leitet er Erschautes weiter ins Werk.

Wie die Baumkrone sich zeitlich und räumlich nach allen Seiten hin sichtbar entfaltet, so geht es auch mit dem Werk.

Es wird niemand einfallen, vom Baum zu verlangen, daß er die Krone genau so bilde wie die Wurzel. Jeder wird verstehn, daß kein exaktes Spiegelverhältnis zwischen unten und oben sein kann. Es ist klar, daß die verschiedenen Funktionen in verschiedenen Elementarbereichen lebhafte Abweichungen zeitigen müssen. Aber gerade dem Künstler will man zuweilen diese schon bildnerisch notwendigen Abweichungen von den Vorbildern verwehren. Man ging sogar im Eifer so weit, ihn der Ohnmacht und der absichtlichen Fälschung zu zeihn.

Und er tut an der ihm zugewiesenen Stelle beim Stamme doch gar nichts anderes, als aus der Tiefe Kommendes zu sammeln und weiterzuleiten. Weder dienen noch herrschen, nur vermitteln.

Er nimmt also eine wahrhaft bescheidene Position ein. Und die Schönheit der Krone ist nicht er selber, sie ist nur durch ihn gegangen.“

Paul Klee: Über die moderne Kunst (Auszug)

Der vollständige Text ist veröffentlicht in Heft 91 von „Tà katoptrizómena“. Das Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik“ erscheint ausschließlich im Internet und basiert, wie auf der Homepage nachzulesen ist, auf dem Prinzip des geteilten Wissens.

Gesichter einer Landschaft

Jede Landschaft hat ihre eigene, besondere Seele, wie ein Mensch, dem du gegenüber lebst.

Christian Morgenstern

Verliere dein Geheimnis nicht vor mir,
Ich bitte dich, verbirg mir deine Reize,
Und wenn ich sehnlich nach Erkenntnis geize,
So schweige sphinxhaft meiner Wissbegier.
Erkennen heisst, ich hab‘ es längst erkannt,
Die Welt in seine armen Grenzen pferchen;
Du lehre mich aus deinen hundert Lerchen,
Dass deine Schönheit kein Verstand umspannt.

Christian Morgenstern: An eine Landschaft

Einer neben dem anderen

Ein ganzes Leben voll Gerechtigkeit, Einfachheit. Bezwingung seiner selbst, Verstandesgemäßheit, Wirksamkeit in seinem Kreise, Bewunderung des Schönen, verbunden mit einem heiteren, gelassenen Sterben, halte ich für groß; mächtige Bewegungen des Gemütes, furchtbar einherrollenden Zorn, die Begier nach Rache, den entzündeten Geist, der nach Tätigkeit strebt, umreißt, ändert, zerstört und in der Erregung oft das eigene Leben hinwirft, halte ich nicht für größer, sondern für kleiner, da diese Dinge so gut nur Hervorbringungen einzelner und einseitiger Kräfte sind wie Stürme, feuerspeiende Berge, Erdbeben.

Wir wollen das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird. Es gibt Kräfte, die nach dem Bestehen des einzelnen zielen. Sie nehmen alles und verwenden es, was zum Bestehen und zum Entwickeln desselben notwendig ist. Sie sichern den Bestand des einen und dadurch den aller. Wenn aber jemand jedes Ding unbedingt an sich reißt, was sein Wesen braucht, wenn er die Bedingungen des Daseins eines anderen zerstört, so ergrimmt etwas Höheres in uns, wir helfen dem Schwachen und Unterdrückten, wir stellen den Stand wieder her, daß ein Mensch neben dem anderen bestehe und seine menschliche Bahn gehen könne, und wenn wir das getan haben, so fühlen wir uns befriedigt, wir fühlen uns noch viel höher und inniger, als wir uns als einzelne fühlen, wir fühlen uns als ganze Menschheit. Es gibt daher Kräfte, die nach dem Bestehen der gesamten Menschheit hinwirken, die durch die Einzelkräfte nicht beschränkt werden dürfen, ja im Gegenteil beschränkend auf sie selber einwirken. Es ist das Gesetz dieser Kräfte, das Gesetz der Gerechtigkeit, das Gesetz der Sitte, das Gesetz, das will, daß jeder geachtet, geehrt, ungefährdet neben dem anderen bestehe, daß er seine höhere menschliche Laufbahn gehen könne, sich Liebe und Bewunderung seiner Mitmenschen erwerbe, daß er als Kleinod gehütet werde, wie jeder Mensch ein Kleinod für alle anderen Menschen sein soll.

Adalbert Stifter (1805 – 1868): Das sanfte Gesetz

Die Bilder dieses Beitrags sind an einem der Seen im Norden von Hamburg entstanden. Der Baum, der, halb noch im Wald, seine Äste über das Wasser streckt, diente mir als Kulisse für ein Fotoshooting. Ein inspirierender Ort. Einer, an dem „die Liebe zum Leben und allem Lebendigen“ (Erich Fromm) gedeiht und man an „sanfte Gesetze“ glauben möchte.

Zwischen Himmel und Erde

p1160798wo Räume weit werden

p1160793und Grenzen verschwimmen

p1160797Fürchte nie, zu überraschen.
Das „harmonische Gesetz“
ist ein Netz mit güldnen Maschen.
Du sei wider jedes Netz.

Denn allein das einzig Deine,
Deines Wesens letzter Schluss,
ist das unersetzlich Eine,
was ich von dir fordern muss.

Christian Morgenstern: Suprema Lex

… und uns anlehnen

P1120757Man muss weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir stünden fest.
Man muss den Atem anhalten,
bis der Wind nachlässt
und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,
bis das Spiel von Licht und Schatten,
von Grün und Blau
die alten Muster zeigt
und wir zu Hause sind,
wo es auch sei,
und niedersitzen können und uns anlehnen
als sei es das Grab
unserer Mutter.

Hilde Domin: Ziehende Landschaft

P1120772Die Bäume, deren Wurzeln ich auslieh, um Hilde Domins Betrachtungen über Heimat und Fremde ein Gesicht zu geben, stehen etwas außerhalb der äthiopischen Kaiserstadt Gondar in einem Garten, der von einer starken Mauer umgeben ist. Mitten darin befindet sich ein Bassin und in dem Bassin ein Wasserschloss aus dem 17. Jahrhundert: das Bad von Kaiser Fasilidas. Das Bassin ist das ganze Jahr über leer. Nur zum Timkat-Fest, dem äthiopisch-orthodoxen Fest der Taufe Jesu im Januar, wird es gefüllt. Sobald der Bischof das Wasser geweiht hat, stürzen sich Kinder von den Bäumen am Rand hinein. Manchmal, so hörte ich, würde dabei auch ein neugieriger Japaner samt Kamera mitgerissen. Und dann ist wieder Ruhe.

P1120768

Entwurzelt

Halb schien sie sich an den mächtigen Stamm der Buche zu lehnen, halb den Baum zu umarmen. Wie ein Kind, dachte ich, das mit seinen dünnen kurzen Ärmchen nur einen kleinen Ausschnitt von so einem alten Riesen zu fassen kriegt. Unter dem Tuch, das sie zu einer Art Turban um den Kopf geschlungen hatte, schauten mir zwei dunkle Augen unverwandt entgegen. Vielleicht erwiderte sie auch nur meinen ebenfalls sehr direkten Blick.

Unter den Bäumen habe ich mit meinen Enkeln getanzt, sagte sie, als ich auf gleicher Höhe angekommen war.

Wie schön!

Nein, widersprach sie bestimmt. Meine Tochter hat alle Wurzeln von den Bäumen abgehackt.

Oh… Tochter und Enkel. Wurzeln. Baumstämme. Stammbäume… Als ich noch überlegte, von welchen Wurzeln die alte Frau wohl sprach, huschte ein Lächeln über ihr kleines Gesicht. Überraschend kraftvoll packte sie meine Hand: 1960 war ich mit meinem Mann auf dem Weg nach Istanbul. Er trug mich auf Händen, auch noch nach der Fehlgeburt… 1971 wurde meine Tochter geboren… Aber das eine hat mit dem anderen nichts zu tun… Habe ich nicht Recht?

Wenn ich das wüsste. Womöglich ist das auch gar nicht die entscheidende Frage, dachte ich, ganz plötzlich hineinkatapultiert in eigene familiäre Verstrickungen. Da war sie wieder, diese alte Sehnsucht:

„Jenseits von Richtig und Falsch gibt es einen Ort. Dort treffen wir uns.“ Zwei kurze Sätze des persischen Mystikers und Dichters Rumi (1207-1273).

Laut sagte ich: Da braucht man Geduld…