Dialog der Geborgenheit

„Ich möchte jemanden einsingen,
bei jemandem sitzen und sein.
Ich möchte dich wiegen und kleinsingen
und begleiten schlafaus und schlafein.
Ich möchte der Einzige sein im Haus,
der wüßte: die Nacht war kalt.
Und möchte horchen herein und hinaus
in dich, in die Welt, in den Wald.
Die Uhren rufen sich schlagend an,
und man sieht der Zeit auf den Grund.
Und unten geht noch ein fremder Mann
und stört einen fremden Hund.
Dahinter wird Stille. Ich habe groß
die Augen auf dich gelegt;
und sie halten dich sanft und lassen dich los,
wenn ein Ding sich im Dunkel bewegt.“

Rainer Maria Rilke: Zum Einschlafen zu sagen (Das Buch der Bilder)

*

„Ich lag, ein kleines Kind, in meiner Mutter Schoße / Und spielte, still entzückt, mit Lilie und Rose, / Und, von dem Duft berauscht, versank ich allgemach / In Schlummer, lind und süß, wie jener Maientag.

Ich lag auch noch im Traum in meiner Mutter Schoße / Und spielte, wie vorher, mit Lilie und Rose, / Und sah, wie Ros’ auf Ros’ dem Himmel sanft entquoll, / Indes die Erde leis zum Lilienbeet erschwoll.

Ach rings nun, statt der Welt, nur Lilie und Rose, / Dazu der Mutter Blick und ihres Hauchs Gekose! / Selbst in der Seele war kein andres Bild mehr da, / Ich wusste nur von dem, was rings mein Auge sah.

Ich lag erwachend noch in meiner Mutter Schoße, / In Händen hielt ich fest die Lilie und die Rose, / Die Mutter, über mich gebeugt, sah still mich an; / O einz’ge Stund’, wo Traum und Sein in Eins zerrann!“

Friedrich Hebbel: Leben und Traum

Das Bild „Maria mit dem schlafenden Kind“ hat um die Mitte des 15. Jahrhunderts herum der italienische Maler und Grafiker Andrea Mantegna geschaffen. Ich habe es in der Ausstellung „Mantegna und Bellini. Meister der Renaissance“ in der Berliner Gemäldegalerie fotografiert, wo ausdrücklich dazu eingeladen wird, seine Eindrücke in Wort und Bild zu teilen. Andrea Mantegna und Giovanni Bellini waren Freunde, Schwäger und Konkurrenten. Sie haben sich gegenseitig inspiriert und kopiert. In Berlin wird das eng miteinander verwobene Schaffen der beiden Künstler in Kooperation mit der Londoner National Gallery und dem British Museum erstmals in einer Ausstellung präsentiert – noch bis zum 30. Juni.

Mantegna gilt als der Rationalere von beiden, der gern mit perspektivischen Verkürzungen experimentierte, während es Bellini primär um das reine Gefühl ging. Vor diesem Hintergrund sticht Mantegnas „Maria mit dem schlafenden Kind“, dem ein Mangel an Gefühl gewiss nicht vorzuwerfen ist, doppelt hervor. Für mich ist es eines der schönsten Bilder der Ausstellung.

Lichträume

Wer James Turrells Ganzfeld „Aural“ im Jüdischen Museum Berlin betritt, erfährt am eigenen Leib, welche Kraft von weichem Licht ausgehen kann. Kaum noch als Raum auszumachen ist die Installation des amerikanischen Lichtkünstlers in einem temporären Bau im Garten des Museums. Am ehesten erinnert sie an eine Landschaft im Nebel oder im Schnee. Vielleicht auch an eine Traumsequenz. Linien verschwimmen. Das Auge muss ohne den gewohnten Halt auskommen. Der Boden unter den Füßen beginnt zu schwanken. Einzelne Besucher stehen schwarzschattig im scheinbar zweidimensionalen Feld. Dass sie stehen, dass ich stehe, weiß ich mehr als dass ich es sehe. Was ich sehe, ist: Weiß, Magenta, Blau, Rot… Mal mit offenen, mal mit geschlossenen Augen. Ein Bild von dem Kunstwerk kann ich hier leider nicht zeigen, der Fotoapparat musste in der Tasche bleiben. Wer sich selbst ein Bild machen will, hat dazu noch bis zum 6. Oktober Gelegenheit. Oder wirft einen Blick auf die Website des Museums.

Mitgebracht habe ich stattdessen Fotos aus dem Keller des Zick-Zack-Anbaus von Daniel Libeskind mit seinen Achsen, schiefen Wänden und rauhen Betonschächten, zwischen denen deutsch-jüdische Geschichte erzählt wird.

In zweien der Voids, der vertikalen Leerräume, die das Gebäude an Kreuzungs- und Endpunkten der Achsen bis hinauf zum Dach durchziehen, ist noch bis zum 1. September die Licht- und Klanginstallation res-o-nant des Konzeptkünstlers Mischa Kuball zu sehen und zu hören.

Rotierende Projektoren werfen Lichtfelder an Wände und Decken, während aus Lautsprechern minutenkurze Soundclips erklingen, die von mehr als 150 MusikerInnen eigens für die Installation produziert wurden.

Nur ein Hauch Tageslicht dringt durch einen schmalen Schlitz in den Betonschacht Voided Void am Ende der Achse des Holocaust. Hier, im Holocaust Turm, ist die vom Architekten Libeskind symbolisierte Leere, die durch die Vertreibung und Vernichtung jüdischen Lebens in der Schoa entstanden ist, physisch wohl am stärksten zu spüren.

Lange halte ich so viel Leere und so wenig Licht nicht aus. An diesem sonnigen Tag ist es fast schon eine Erholung, für eine kleine Weile nach draußen in den Garten des Exils am Ende der gleichnamigen Achse zu treten.

Schwindelig werden kann einem allerdings auch hier, zwischen den 49 Stelen, die auf einer schiefen Ebene zu einem ziemlich engen Quadrat angeordnet sind.

Oder doch spätestens beim Blick in die Höhe, wo in viel Berliner und ein wenig Jerusalemer Erde Ölweiden wachsen. Unerreichbar und doch: ein Symbol der Hoffnung.

Die Achse der Kontinuität schließlich führt mich zum Memory Void  und der tief berührenden Installation Schalechet (Gefallenes Laub) von Menashe Kadishman. Tausende Gesichter mit aufgerissenen Mündern aus schweren runden Eisenplatten bedecken den Boden des ansonsten leeren Raums. Ob es wohl der Name des Kunstwerks ist, der so viele Besucher dazu verleitet, auf ihm herumzulaufen? Dabei raschelt dieses „Laub“ doch gar nicht sondern knackt, als brächen Knochen.

Zeit, in den Museumsgarten zurückzukehren, in andere Lichträume.

Berlin-Schnipsel (4)

Manchmal scheint, beinahe überraschend, für einen Moment die Zeit still zu stehen:

P1050678wenn die Oberbaumbrücke in spätherbstliches Gegenlicht getaucht ist zum Beispiel,

P1050679wenn auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof Grabsteine mit Birken verschmelzen,

P1050718P1050729wenn zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmals gerade einmal niemand Verstecken spielt

P1050733und sich auch auf dem Gendarmenmarkt die allgegenwärtigen Unterschriftensammler trollen.

P1050572Mit diesen Impressionen endet meine kleine Berlin-Reihe. Eine schöne neue Woche euch allen!

Berlin-Schnipsel (2)

P1050658– Sag schon, wie findest du mich? Gefällt dir mein Kleid?

– Gut, ja. Äh… ich trag ja selbst meistens Hosen…

Ob Adorno Kostüme mochte? Sie nimmt sich vor, das zu recherchieren.

P1050669– Hier sind wir groß geworden. Hier wollen wir alt werden.

– Ja, stimmt: Gentrifizierung ist ein Problem. Aber das sieht hier schon arg runtergekommen aus, finde ich…

– Keine Schönheits-OPs!

Schönheits-OP? denkt sie. Wohl eher eine am offenen Herzen…

P1050687– Migration is not a crime.

Der Aussage kann sie ohne Wenn und Aber zustimmen. Hos geldiniz, herzlich willkommen, steht an dem Haus, das mit seinen Erd-, Wasser- und Himmelfarben dem Auge für einen Moment Ruhe bietet. Es wird der letzte sein bis zum Ende der langen Straße. Jeder Quadratmeter Fassade ist mit Graffiti bemalt und besprüht. Sie staunt: Was für ein Bedürfnis, sich mitzuteilen! Immerzu nimmt in dieser Stadt einer Stellung. Immerzu fordert einer, Stellung zu beziehen.

P1050637– Bühne ist jede Sekunde im Leben, Meinung geben!

Sie muss lachen. In einem Hinterhof schwebt, leuchtend blau-rot-gelb, eine Art Berlin-Essenz vor ihren Augen.

Sie schließt die Haustür hinter sich, schiebt die Kapuze über den Kopf und betritt den Tag.

P1050639Verrückt, denkt sie. Sogar Strategien, wie man am besten mit ihr umgeht, schreibt diese Stadt noch an die Wand.

Berlin-Schnipsel (1)

P1050612Der allererste Eindruck: Himmel, was wird in der City gebaut! Kräne, so weit das Auge reicht. Der „Telespargel“ – nur noch eine Stange im Salat. Rohre verschmelzen mit der Umgebung zu farblich fein abgestimmten grafischen Mustern.

P1050741Ein Hauch Vergänglichkeit haftet den meisten an, aber immer auch dieses selbstbewusste „Yes we can!“ Und Baumeister Schinkel hat alles im Blick.

P1050619Ein paar Ecken weiter ruft ein Kind: „Mama, was macht denn der gelbe Mann da?“

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Vom Fragen und Finden

P1050777Fischerinsel? brummelt der Mittfünfziger im roten Anorak. Kennen Sie die? Er schaut an mir vorbei, während er fragt.

Ja, sage ich, gleich da vorn.

Da soll es ein öffentliches Bad geben, sagt er und lässt den Blick kreisen.

Kann sein, sage ich. Das kenne ich nicht. Aber die Fischerinsel ist die nächste Straße rechts.

Muss ja hier irgendwo sein, sagt er, als spräche ich Kisuaheli. Plötzlich, strahlend: Sehen Sie, da drüben, die Fischerinsel-Passage! Dann kann es nicht weit sein. Und weg ist er.

Bekenntnis 1: Viel mehr Straßen kenne ich in dieser Ecke Berlins selbst nicht mit Namen. Im Supermarkt an der Fischerinsel habe ich in den vergangenen Tagen ein paar Mal eingekauft. Auf Kurzbesuch in der Hauptstadt.

Bekenntnis 2: Manchmal bin ich besonders froh, eine Frau zu sein. Man kann zum Beispiel ohne Gesichtsverlust jemanden nach dem Weg fragen, wenn man sich nicht auskennt. Oder einfach eine Weile herumstreifen und schauen, was einem so begegnet. Ganz nach Belieben. Eine Auswahl meiner Eindrücke von Berlin gibt es demnächst hier zu sehen. Für heute: Schönes Wochenende!

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Vielfarbig blaugrün

P1040034„Wer zur Quelle will, muss gegen den Strom schwimmen“, wusste schon Konfuzius. Oder er oder sie radelt. Beispielsweise, und nur bedingt philosophisch gemeint. Dass ich die Quelle der Havel von ihrer Mündung in die Elbe aus in Angriff nahm, war kaum mehr als ein Zufall. So konnte ich unterwegs noch Freunde treffen. Und irgendwie versprach ich mir davon auch mehr Rückenwind. Was nicht ganz falsch war, aber bei einem Fluss, der sich hufeisenförmig durch die Landschaft windet, im Grunde auch nicht wirklich bedeutsam ist. Irgendwann kommt der Wind doch von vorn. Was hier ebenfalls eher wörtlich zu verstehen ist.

P1040049Dass die Havel ein Hufeisen ist (und Berlin mittendrin), hatte mir allerdings noch vor dem Wind die Begegnung mit einer Berlinerin vermittelt, die zu meinem Erstaunen verkündete, dass sie abends wieder nach Hause führe, um die Blumen zu gießen. Tagsüber radelte sie auf den Spuren ihres Urgroßvaters (vielleicht war es auch noch ein „Ur“ mehr) durch das Land Schollene, da, wo die Havel von Osten kommend ihre Fließrichtung nach Norden ändert. Der Urahn war vor dem großen Brand 1844 Pächter auf einem der Güter in der Gegend gewesen und hatte umfangreiche Aufzeichnungen hinterlassen.

P1040065Tagesurlauber aus Berlin sollten mir bis zur Quelle immer wieder begegnen. Ebenso wie Soljanka. Leider ausschließlich in der Fleisch- oder Wurstvariante. (Zitat eines Wirts: „Einen Tag koche ich sie mit Fleisch, den nächsten mit Wurst, damit die Leute Abwechslung haben. Und zu Hause schneide ich auch noch ein paar Knacker mit rein.“) Angeblich gibt es den beliebten Eintopf aus der DDR-Gastronomie auch mit Fisch oder Pilzen. In den Gasthäusern, in die ich einkehrte, war das nicht der Fall. Dabei habe ich fast schon repräsentativ zu nennende Feldstudien betrieben.

P1040039P1040080Am Plauer See traf ich meine Freunde – und den ebenfalls sehr geschätzten Theodor Fontane, der mir zuletzt im Spreewald begegnet war, dort wie hier auf einer seiner vielen Wanderungen durch die Mark Brandenburg: „Am schönsten ist es aber doch am Rand des Sees, wo Weidicht und Rohr abwechseln. Besser: hoch das Rohr steht. Es ist wie zu Johann von Quitzows Tagen. Hier sitzen im Abendschein. Dann rauscht und raschelt es. Man horcht auf und fröstelt, als führe Quitzow heraus.“ Das tat er zum Glück nicht, ebenso wenig wie sein Bruder Dietrich. Um 1400 herum zählten die Gebrüder zu den gefürchtetsten Raubrittern im Raum Berlin-Brandenburg und eroberten von der Burg Plaue aus unter anderem das heutige Oranienburg.

P1040164Dorthin führte mich ein paar Tage später auch der Weg. Die Städte Brandenburg und Werder, beide malerisch mehr oder weniger mitten in die Havel gebaut, lagen da schon hinter mir, ebenso wie das großartige Potsdam. Aber eben auch noch ein ordentliches Stück bis zur Quelle vor mir. Zeit für ein Geständnis, denke ich: Wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs bin, zieht es mich weiter, immer weiter. Nicht schnell, aber stetig. Ich bin dann im Fahr-, nicht im Besichtigungsmodus und auch lieber draußen als drinnen.

P1040182So kommt es, dass ich zwar durch Sanssouci und andere Schlossparks gestreift bin (ganz toll sind die „Gartenzimmer“ in Oranienburg), durch Babelsberg, über die Glienicker Brücke und am Haus der Wannsee-Konferenz vorbei, dass ich mir aber von innen höchstens mal ein Kirchlein angesehen habe. Und die Herberge am Trockendock natürlich, in die es mich eines Nachts verschlug und die früher mal ein Akkumulatorenwerk gewesen ist. Mehr wussten die freundlichen Mitarbeiterinnen leider nicht über die Geschichte des Hauses zu berichten.

P1040325Auf dem Gelände des Ziegeleiparks in Mildenberg, der ab Ende des 19. Jahrhunderts beinahe hundert Jahre lang einer der wichtigsten Orte der Ziegeleiproduktion in Europa war, hätte ich dagegen um ein Haar übernachten müssen, so viel hatten Günter und Andreas über Herstellungsverfahren und Arbeitsbedingungen zu erzählen – und so gern habe ich den beiden zugehört. Den Reizen der Deetzer und Götzer Erdlöcher und der Zehdenicker Tonstichlandschaft war ich ohnehin längst erlegen: Die Gruben, die sich nach der Stillegung der Ziegeleien nach der Wende mit Wasser füllten und seither Tieren und Pflanzen Lebensraum bieten, lassen die jahrzehntelangen menschlichen Eingriffe allenfalls noch erahnen.

P1040148Begonnen hatte ich die Tour im Hochsommer. Aber so langsam wurden die Brisen auch im Osten immer steifer, der Himmel immer schauriger. Also feste in die Pedale getreten. Noch schnell ein Abstecher nach Neustrelitz, noch einmal unter dem Regen durchgetaucht, ein letzter Besuch in einem Hofcafé – und die Quelle war erreicht! Längst nicht so beeindruckend wie die Mündung, zugegeben, aber ich war am Ziel. Oder doch beinahe.

P1040294P1040415555 Kilometer standen am Ende auf dem Tacho. Der Havel-Radweg selbst ist mit 378 Kilometern ausgewiesen, aber man muss ja auch irgendwie hin- und wieder wegkommen. (Mit der Bahn bieten sich Wittenberge an der Elbe und Waren an der Müritz als An- bzw. Abreiseorte an.) Und ein bisschen links und rechts des Wegs zu stromern gehört zum Vergnügen einfach dazu, finde ich.