Alle naslang

Alle naslang begegnet einem irgendwas, wenn man, quasi immer der Nase nach, durch die Gegend streift. Wie hoch die bronzene Frau auf dem Angermünder Markt die ihre trägt!

Wem nur mag der Narr vor der Klosterkirche ein paar Straßen weiter eine lange Nase drehen? Die älteste bildliche Darstellung der Geste findet sich, wie ich später nachlas, im Fest der Narren, einer Radierung Pieter Bruegels des Älteren aus dem Jahre 1559. Auch im Englischen sagen sie übrigens to thumb one‘s nose. Und im Französischen verlängert man die Nase gleich um eine Fußlänge, wenn man jemanden verspottet: faire un pied de nez.

Meine Nase hat mich übrigens nicht getrogen: Den Angermünder Künstler Christian Uhlig, der sowohl den Marktbrunnen als auch die Geschichte ohne Ende vor der Klosterkirche gestaltete, kannte ich tatsächlich bereits. Die Flötistin und der Cellist aus der Skulpturengruppe Zeitreise in Wittenberge an der Elbe, an denen ich vor Jahren vorbei radelte, sind auch von ihm. Sehen sie nicht aus wie Geschwister der Dame auf dem Angermünder Markt?

Wie auch immer: Die Nase vorn hat sicher der Elefant vor einer Wohnanlage in Hamburg-Eimsbüttel, den ich im vergangenen Herbst fotografierte. Mit dessen Rüssel kann selbst ein spottender Franzose nicht mithalten.

Wabi Sabi in Brandenburg

Der weite Himmel über sanft rollenden Hügeln.
Dräuend bisweilen, kurz vor dem Regen, den das trockene Land so dringend braucht.

Die backsteinernen Kirchlein in den Dörfern. Die vielen Kopfsteinpflasterstraßen.
Steinreich sind sie in der Gegend.

Der Obstbaum hinter dem Haus.
Die Birnen des Herrn von Ribbeck sind nur einen Steinwurf entfernt.

Altes landwirtschaftliches Gerät.
Zu nichts mehr zu gebrauchen als dazu uns zu erinnern.

Gärten so wild.

Häuser so verlassen.

Wälder so still.

Wie ich die herbe Schlichtheit mag, das Unvollkommene, manchmal auch halb Verfallene, in denen so viel Schönheit liegt!

Schlicht und schön

Schönheit besteht in Harmonie, die immer eng mit Schlichtheit verbunden ist.
Giacomo Casanova (1725 – 1798), italienischer Abenteurer und Schriftsteller

Die Baukunst fordert vor allem Ruhe.
Karl Friedrich Schinkel (1781-1841), preußischer Architekt, Baumeister, Stadtplaner und Maler

Leider war der Himmel ziemlich bedeckt, als ich das ehemalige Zisterzienserkloster Chorin ein paar Kilometer nördlich von Eberswalde im brandenburgischen Landkreis Barnim besuchte. Der wohltuenden Ruhe, die dieser Ort ausstrahlt, tat das keinen Abbruch. Aber ich vermute, er ist noch schöner, wenn Sonnenlicht die vielen Rottöne der Backsteine zum Brennen bringt.

Der letzte Mönch verließ die Abtei bereits 1545. Danach wurden die heiligen Hallen als Schweinestall und Scheune benutzt. Mauern wurden eingerissen, um die Steine für eigene Zwecke zu verwenden. Bald schon war das Kloster zur Ruine verkommen. Und es wäre wohl kaum noch etwas von ihm übrig, wenn nicht der Baumeister Karl Friedrich Schinkel die Bedeutung der Anlage erkannt und ihren Verfall gestoppt hätte. Für Schinkel war der gotische Bau „des Landes schönster Schmuck“. Heute ist das oberhalb des Amtssees gelegene Kloster eines der wichtigsten Backsteindenkmäler Deutschlands. Der „Choriner Musiksommer“ mit Konzerten in und um die ehemalige Abtei fällt in diesem Jahr wegen Corona leider aus.

Der Abend ist mein Buch

Der Abend ist mein Buch. Ihm prangen
die Deckel purpurn in Damast.
Ich löse seine goldnen Spangen
mit kühlen Händen, ohne Hast.

Und lese seine erste Seite,
beglückt durch den vertrauten Ton, –
und lese leiser seine zweite,
und seine dritte träum ich schon…

Rainer Maria Rilke: Der Abend ist mein Buch

An diesem stillen See in der brandenburgischen Schorfheide nahe des Klosters Chorin nahm ich für ein paar Tage Quartier. Viel erholsamer kann man seine Zeit kaum zubringen als morgens und abends in den Großen Heiligen See (oder einen der vielen anderen Seen in dem Biosphärenreservat) zu tauchen und dazwischen endlos durch beinahe menschenleere Felder und Wälder zu streifen. Dass ich Abendbilder poste, ist kein Zufall. Dann ist alles noch weicher: das Licht, das Wasser. Und tiefer Friede durchströmt die Seele.

Vielfarbig blaugrün

P1040034„Wer zur Quelle will, muss gegen den Strom schwimmen“, wusste schon Konfuzius. Oder er oder sie radelt. Beispielsweise, und nur bedingt philosophisch gemeint. Dass ich die Quelle der Havel von ihrer Mündung in die Elbe aus in Angriff nahm, war kaum mehr als ein Zufall. So konnte ich unterwegs noch Freunde treffen. Und irgendwie versprach ich mir davon auch mehr Rückenwind. Was nicht ganz falsch war, aber bei einem Fluss, der sich hufeisenförmig durch die Landschaft windet, im Grunde auch nicht wirklich bedeutsam ist. Irgendwann kommt der Wind doch von vorn. Was hier ebenfalls eher wörtlich zu verstehen ist.

P1040049Dass die Havel ein Hufeisen ist (und Berlin mittendrin), hatte mir allerdings noch vor dem Wind die Begegnung mit einer Berlinerin vermittelt, die zu meinem Erstaunen verkündete, dass sie abends wieder nach Hause führe, um die Blumen zu gießen. Tagsüber radelte sie auf den Spuren ihres Urgroßvaters (vielleicht war es auch noch ein „Ur“ mehr) durch das Land Schollene, da, wo die Havel von Osten kommend ihre Fließrichtung nach Norden ändert. Der Urahn war vor dem großen Brand 1844 Pächter auf einem der Güter in der Gegend gewesen und hatte umfangreiche Aufzeichnungen hinterlassen.

P1040065Tagesurlauber aus Berlin sollten mir bis zur Quelle immer wieder begegnen. Ebenso wie Soljanka. Leider ausschließlich in der Fleisch- oder Wurstvariante. (Zitat eines Wirts: „Einen Tag koche ich sie mit Fleisch, den nächsten mit Wurst, damit die Leute Abwechslung haben. Und zu Hause schneide ich auch noch ein paar Knacker mit rein.“) Angeblich gibt es den beliebten Eintopf aus der DDR-Gastronomie auch mit Fisch oder Pilzen. In den Gasthäusern, in die ich einkehrte, war das nicht der Fall. Dabei habe ich fast schon repräsentativ zu nennende Feldstudien betrieben.

P1040039P1040080Am Plauer See traf ich meine Freunde – und den ebenfalls sehr geschätzten Theodor Fontane, der mir zuletzt im Spreewald begegnet war, dort wie hier auf einer seiner vielen Wanderungen durch die Mark Brandenburg: „Am schönsten ist es aber doch am Rand des Sees, wo Weidicht und Rohr abwechseln. Besser: hoch das Rohr steht. Es ist wie zu Johann von Quitzows Tagen. Hier sitzen im Abendschein. Dann rauscht und raschelt es. Man horcht auf und fröstelt, als führe Quitzow heraus.“ Das tat er zum Glück nicht, ebenso wenig wie sein Bruder Dietrich. Um 1400 herum zählten die Gebrüder zu den gefürchtetsten Raubrittern im Raum Berlin-Brandenburg und eroberten von der Burg Plaue aus unter anderem das heutige Oranienburg.

P1040164Dorthin führte mich ein paar Tage später auch der Weg. Die Städte Brandenburg und Werder, beide malerisch mehr oder weniger mitten in die Havel gebaut, lagen da schon hinter mir, ebenso wie das großartige Potsdam. Aber eben auch noch ein ordentliches Stück bis zur Quelle vor mir. Zeit für ein Geständnis, denke ich: Wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs bin, zieht es mich weiter, immer weiter. Nicht schnell, aber stetig. Ich bin dann im Fahr-, nicht im Besichtigungsmodus und auch lieber draußen als drinnen.

P1040182So kommt es, dass ich zwar durch Sanssouci und andere Schlossparks gestreift bin (ganz toll sind die „Gartenzimmer“ in Oranienburg), durch Babelsberg, über die Glienicker Brücke und am Haus der Wannsee-Konferenz vorbei, dass ich mir aber von innen höchstens mal ein Kirchlein angesehen habe. Und die Herberge am Trockendock natürlich, in die es mich eines Nachts verschlug und die früher mal ein Akkumulatorenwerk gewesen ist. Mehr wussten die freundlichen Mitarbeiterinnen leider nicht über die Geschichte des Hauses zu berichten.

P1040325Auf dem Gelände des Ziegeleiparks in Mildenberg, der ab Ende des 19. Jahrhunderts beinahe hundert Jahre lang einer der wichtigsten Orte der Ziegeleiproduktion in Europa war, hätte ich dagegen um ein Haar übernachten müssen, so viel hatten Günter und Andreas über Herstellungsverfahren und Arbeitsbedingungen zu erzählen – und so gern habe ich den beiden zugehört. Den Reizen der Deetzer und Götzer Erdlöcher und der Zehdenicker Tonstichlandschaft war ich ohnehin längst erlegen: Die Gruben, die sich nach der Stillegung der Ziegeleien nach der Wende mit Wasser füllten und seither Tieren und Pflanzen Lebensraum bieten, lassen die jahrzehntelangen menschlichen Eingriffe allenfalls noch erahnen.

P1040148Begonnen hatte ich die Tour im Hochsommer. Aber so langsam wurden die Brisen auch im Osten immer steifer, der Himmel immer schauriger. Also feste in die Pedale getreten. Noch schnell ein Abstecher nach Neustrelitz, noch einmal unter dem Regen durchgetaucht, ein letzter Besuch in einem Hofcafé – und die Quelle war erreicht! Längst nicht so beeindruckend wie die Mündung, zugegeben, aber ich war am Ziel. Oder doch beinahe.

P1040294P1040415555 Kilometer standen am Ende auf dem Tacho. Der Havel-Radweg selbst ist mit 378 Kilometern ausgewiesen, aber man muss ja auch irgendwie hin- und wieder wegkommen. (Mit der Bahn bieten sich Wittenberge an der Elbe und Waren an der Müritz als An- bzw. Abreiseorte an.) Und ein bisschen links und rechts des Wegs zu stromern gehört zum Vergnügen einfach dazu, finde ich.