zwischen.zeilen

Neulich traf ich S., eine Kollegin aus alten Zeitungszeiten, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Neben Berichten über Gemeinderatssitzungen und andere Ereignisse von lokaler und regionaler Bedeutung verfassten S. und ein paar von uns anderen seinerzeit auch Buchbesprechungen für die regelmäßig erscheinende Literaturseite der Zeitung. S.` Liebe zur Literatur war groß, die Liebe des jungen K. zu S. nicht minder. So lag es irgendwie nahe, dass K. mit einem besonders gewichtigen Buchgeschenk das Herz von S. zu gewinnen trachtete: Zettel’s Traum von Arno Schmidt. S. war gerührt, die etwas prosaischeren Naturen unter uns konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen. Der Trumm mit seinen 1300 Seiten im DIN-A3-Format und zehn Kilo Lebendgewicht, eine Reproduktion von Schmidts Schreibmaschinen-Skript mit handschriftlichen Korrekturen und Einfügungen, mit unorthodoxer Zeichensetzung und der Abkehr von allem, was man an Rechtschreibregeln so kannte, versprach nicht gerade überbordendes Lesevergnügen. Selbst der Suhrkamp Verlag räumt auf seiner Website im Grunde ein, „dass Zettel’s Traum ein unlesbares Buch sei. Trotzdem (oder gerade deswegen) wurde es bald ein Kultbuch und verkaufte sich in fünfzig Jahren etwa 25.000 Mal. Wie viele dieser Exemplare tatsächlich gelesen worden sind, weiß freilich niemand.“

Eines der 25.000 Exemplare befindet sich im Besitz von S., die mir jetzt, beinah vier Jahrzehnte später, verriet, dass auch sie über die erste Seite des Schwergewichts nie hinausgekommen sei – nachdem sie Stunden mit K. und Arno Schmidt und einem Haufen Sekundärliteratur auf dem Boden des weihnachtlich geschmückten Wohnzimmers verbracht hatte. Die Liebe zu den vielen Büchern, so erklärte sie, sei einfach zu groß gewesen, um sich ein Jahr oder womöglich noch länger auf nur eines zu beschränken. S. stammt aus einem sogenannten bildungsfernen Elternhaus. Die Literatur hat sie erst verhältnismäßig spät für sich entdeckt. Entliebt hat sie sich nie mehr, übrigens auch nicht von K., aber das ist eine andere Geschichte.

In Büchern kann man Menschen begegnen, die man im wirklichen Leben nie treffen würde. Man kann Geschichten erleben, die so nie passieren würden. Man kann total ausgedachtes Zeug lesen, in dem doch die tiefste Wahrheit steckt. Diese Heimat glaubte ich, anders als S., für mich bereits verloren. Vorbei schien die Gewissheit, dass da eine nie versiegende Quelle ist, die nur darauf wartet, dass ich sie anzapfe, um für eine kleine Weile herauszutreten aus der Begrenztheit der eigenen Erfahrungen und Erlebnisse. Die freigiebig so ziemlich alles zwischen Inspiration und Irritation schenkt, dazu Vergnügen und Trost und noch eine ganze Menge mehr. Jahrzehntelang hatte das funktioniert, mal mehr, mal weniger gut. Natürlich habe ich auch während der Pandemie gelesen. Berge von Zeitungen vor allem. Auch das eine und andere Sachbuch. Aber Romane? Erzählungen? Gedichte? Nicht der Rede wert. Im Wortsinn: es stockte ja nicht nur die Lektüre, auch die eigenen Worte wollten nicht, wie sie sollten. Sie wollen immer noch nicht. Jetzt, mit diesem irrsinnigen Krieg nebenan, weniger denn je.

Immerhin lese ich wieder. Unruhig und unkonzentriert bisweilen, aber zwischendurch spüre ich doch unverkennbar etwas von dem alten Zauber… Man muss den Widrigkeiten der Gegenwart etwas entgegensetzen, hatte ich mir gesagt, als ich an einem der ersten Januartage beschloss, 2022 jede Woche ein literarisches Werk zu lesen. Es hat nicht jede Woche geklappt, nein, aber doch in den meisten. Dazu trug auch der lebhafte Austausch mit S. bei. „Schön, sich in der einhelligen Liebe zur Literatur auch sehr unterhaltsam uneinig sein zu können“, schrieb sie hinterher. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Außer: wie dankbar bin ich, diese Heimat wiedergefunden zu haben!

Ein ganzes Leben

Robert Seethaler: Ein ganzes Leben. Roman. München 2014

278x453x978-3-446-24645-4_9783446246454.jpg.pagespeed.ic.XaLw0wqeEt„Einmal, während einer kurzen Rast am Zwanzigerkogel, packte ihn ein vor Ergriffenheit bebender junger Mann an den Schultern und schrie ihn an: ‚Sehen Sie denn nicht, wie wunderschön das alles hier ist!‘ Egger blickte in das von Glückseligkeit verzerrte Gesicht und sagte: ‚Schon, aber gleich wird es regnen, und wenn die Erde zu rutschen anfängt, ist es vorbei mit der ganzen Schönheit.'“ (S. 119)

Ich musste lachen. Das hätte der Karl auch gesagt haben können. Klein und drahtig, das Gesicht vom Draußensein bei jedem Wetter ledrigbraun und voller Furchen, ein Mann undefinierbaren Alters mit rauem festem Händedruck – so erwartete er uns auf einem Parkplatz am Rande des Stubaitals. Unser Bergführer für die kommende Woche. Eigentlich kam der Karl aus dem Ötztal. Er erwähnte das, als läge eine Reise um die halbe Welt zwischen den benachbarten Alpentälern. Auch der Karl gestand uns nur kurze Rasten zu. Gucken, fand er, könnten wir noch, wenn wir den Gipfel erreicht hätten. Der Karl sprach wenig. Waren es einmal drei Sätze am Stück, ging es vermutlich um die Formation von Cirrus- und anderen Wolken. Für meine bergberauschten Sinne mochte sich das wie Poesie anhören – der Karl war mit seinen Gedanken ganz unsentimental bei der Tiefdruckzone, die sich über dem Gletscher bildete.

„Er hatte seine Kindheit, einen Krieg und eine Lawine überlebt. Er war sich nie zu schade für die Arbeit gewesen, hatte eine unübersichtliche Anzahl von Löchern in den Fels gesprengt und wahrscheinlich genug Bäume geschlagen, um mit ihrem Holz einen Winter lang die Öfen einer ganzen Kleinstadt zu befeuern. Er hatte oft und oft sein Leben an einen Faden zwischen Himmel und Erde gehängt und in seinen letzten Jahren als Fremdenführer hatte er mehr über die Menschen erfahren, als er begreifen konnte. Soweit er wusste, hatte er keine nennenswerte Schuld auf sich geladen, und er war den Verlockungen der Welt, der Sauferei, der Hurerei und der Völlerei, nie verfallen. Er hatte ein Haus gebaut, hatte in unzähligen Betten, in Ställen, auf Laderampen und ein paar Nächte sogar in einer russischen Holzkiste geschlafen. Er hatte geliebt. Und er hatte eine Ahnung davon bekommen, wohin die Liebe führen konnte. Er hatte gesehen, wie ein paar Männer auf dem Mond herumspazierten. Er war nie in die Verlegenheit gekommen, an Gott zu glauben, und der Tod machte ihm keine Angst. Er konnte sich nicht erinnern, wo er hergekommen war, und letztendlich wusste er nicht, wohin er gehen würde. Doch auf die Zeit dazwischen, auf sein Leben, konnte er ohne Bedauern zurückblicken, mit einem abgerissenen Lachen und einem einzigen, großen Staunen.“ (S. 146 f)

Nein, religiös war dieser Andreas Egger sicher nicht. Und doch ließe sich sein Leben mit dem bekannten Psalm umschreiben: „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.“ Es ist ein hartes Leben, das der Österreicher Robert Seethaler in seinem fünften Roman auf gerade einmal 150 Seiten ruhig, unpathetisch, auf das Wesentliche reduziert erzählt. Das Glück ist darin nicht mehr als ein flüchtiger Gast. Der Hilfsknecht, Seilbahnbauer, Kriegsgefangene und Bergführer Andreas Egger nimmt das eine wie das andere hin. Er begehrt nicht auf, zerbricht aber auch nicht – nicht an den brutalen Misshandlungen des Pflegevaters und nicht an den Schlägen, die das Schicksal ein Leben lang für ihn bereithält. Genügsam erfüllt er seine Pflicht. Es zieht ihn nicht an andere Orte und er träumt auch nicht von einem anderen Leben, wie wir modernen (Stadt-)Menschen dies so gerne tun.

Was mich immer wieder fasziniert, in der Literatur ebenso wie im wirklichen Leben, ist, dass weder das eine noch das andere Modell ein Garant für Glück oder Zufriedenheit ist. Eine erste Ahnung davon, dass auch ein Leben, das mir selbst eng erschiene, sehr erfüllt sein kann, erhielt ich, als ich in einem anderen Jahrhundert im Norden Griechenlands eine sehr alte Frau kennenlernte, die bis auf einige wenige Ausflüge in die nahe Kleinstadt nie aus ihrem Dorf herausgekommen war. Mit einer Mischung aus Schaudern und Entzücken verfolgte sie „Raumschiff Enterprise“ im Fernsehen und wenn Mr. Spock auf dem Bildschirm auftauchte, staunte sie darüber nicht weniger als Andreas Egger über die Männer, die auf dem Mond herumspazierten. Aber selbst der Weg vom Ötztal ins Stubaital kann weit sein.

Und so, wie die Begegnung mit einem Menschen gut tut, dessen Leben sich auf die eine oder andere Weise erfüllt, so tut auch die Lektüre dieses Romans gut. „Wer seiner Seele eine Freude machen will“, sagte Christine Westermann im WDR, „der lese dieses Buch.“ Der Aufforderung kann ich mich nur anschließen.

Quirlender Stillstand

Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling. Roman. Berlin 2014

42421Wenn ein Buch einem viel zu sagen hat, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass es einem leicht fallen müsste, über das Buch zu schreiben. „Panischer Frühling“ von Gertrud Leutenegger ist für mich so ein Buch. Die Bekanntschaft (und ein Leseexemplar) verdanke ich Claudia vom Grauen Sofa im Rahmen des Bloggerprojekts LongListLesen 2014. Inzwischen steht der Roman auf der Shortlist für den diesjährigen Buchpreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Darüber freue ich mich.

Die äußeren Ereignisse sind rasch erzählt: Eine Frau (die Ich-Erzählerin) streift durch London. Durch Parks und das Vielvölkergemisch im East End, wo sie wohnt. Und immer wieder zur Themse, deren bald träges, bald eiliges Fließen sie magisch anzieht: „Nie hat ein Fluss mich mehr verwirrt als die Themse. Wenn die Gezeiten wechselten, entstand ein quirlender Stillstand.“ Die Frau ist alt genug für eine erwachsene Tochter, irgendwo in den Regenwäldern des Amazonas. „Allem fern sein, um allem nah zu sein“: Das ist die Aufgabe, die sie sich selbst gestellt hat. Eine Art Auszeit also.

Es ist Frühling. Jener Frühling, in dem der isländische Vulkan mit dem unaussprechlichen Namen den Flugverkehr über Europa lahmlegte. Die Erzählerin treibt durch die Stadt und nimmt wahr. All ihre Antennen sind auf Empfang gestellt. Sie läuft und assoziiert, läuft und erinnert sich. Die Grenzen von Zeit und Raum verschwimmen, auch in dem Kopf der Frau herrscht „quirlender Stillstand“. Alles ist zugleich da: Die Aschewolke auf dem Bildschirm des kleinen Fernsehers auf dem Mikrowellenherd in dem pakistanischen Lokal und der strahlendblaue Londoner Himmel darüber. Die Aschewolke des Vulkans und die geweihte Asche, die der Frau aufs Haar gestreut wurde, als sie noch ein Kind war, in jenen längst vergangenen Sommern auf dem Pfarrhof des Onkels in der Schweiz. Die Massen an prallen Jackfruits, die sich Tag für Tag auf der Auslage des Ladens im East End türmen, während im Gewächshaus in den königlichen Kew Gardens im Westen „eine einzige kümmerliche Jackfruit, grün und mager, gelehrt beschriftet, mit Schnüren und Bambusstecken gestützt“ wird. Die Schönheit dieser flugverkehrsfreien Tage und die Bilder des Terroranschlags auf die Londoner U-Bahn ein paar Jahre zuvor … Und die zwei Gesichtshälften des Zeitungsverkäufers, dem die Erzählerin bei einem ihrer Streifzüge auf der London Bridge begegnet: „wie auf einem Renaissancebildnis“ die eine, von einem schrecklichen Feuermal entstellt die andere.

Die beiden kommen miteinander ins Gespräch. „Und der junge Mann begann von seinen Sommern in Penzance zu erzählen, als würden wir die ganze Nacht auf dieser Brücke sitzen bleiben, ich auf seinem Zeitungspacken, sein Freund aus Jamaica leise trommelnd neben uns.“ Die Sommer bei der Großmutter, die den Jungen mit dem mißgestalteten Gesicht davor schützen wollte, womöglich in einer finsteren Nacht von den Klippen gestoßen zu werden. „Nicht wahr, sagte er, ich rede so viel, viel zuviel! Meine Großmutter sagte oft, das hätte ich von ihr, das wäre den Iren und den Menschen an den Küsten Cornwalls gemeinsam, dass sie ununterbrochen schweigen oder ununterbrochen erzählen würden, aber Schweigen und Erzählen sei ein und dasselbe, nichts anderes als das Rauschen des Meers.“ Da ist es wieder, dieses Sowohl-als-auch, dieses Zugleich, das das Buch durchströmt wie ein langer Fluss.

Erzählen schafft Nähe, auch zu den Abwesenden. Und wenn es gut läuft, wird auch der Zuhörer dabei seiner selbst und der eigenen Geschichte inne. Für die Frau läuft es gut. „Und um das großmütterliche Haus des jungen Mannes, verborgen hinter einem Lorbeerbaum nahe am Meer in Penzance, das er erst als eine flüchtige Zeichnung in die Nacht hinein entworfen hatte, nicht zu verlieren, fügte ich im morgendlichen Wachschlaf mein eigenes längst entschwundenes Sommerhaus mit seinem Waldzimmer, dem roten Saal, dem blauen Kabinett hinzu, und so daraus eines der englischen Doppelhäuser bildend, mutete ich diesem zu, sich wie ein Lichtkeil in die unnachgiebig verrinnende Zeit hineinzutreiben.“ „Und alle Zeit ward Gegenwart“, wie es in einem Gedicht von Hermann Hesse heißt. Jedenfalls für den Augenblick.

Nachdem der junge Mann der Frau das dunkelste Kapitel seines Lebens erzählt hat, taucht er plötzlich nicht mehr auf der Brücke auf. Dabei wusste die Frau doch schon, was sie ihm als Gegengabe für seine Geschichte erzählen und was sie ihm sagen wollte: „Nichts kann für immer verschwinden! würde ich ihn bestürmen, sagte nicht sie (die Großmutter) ihm einmal, was die Ebbe nimmt, bringt die Flut wieder?“ Die Frau ist verzweifelt. Alles um sie herum erscheint ihr plötzlich unwirklich: „Hatte denn nur die Aussicht, Jonathan zu sehen und ihm davon zu erzählen, allem Leben und Glanz verliehen? Selbst das Sommerhaus entglitt mir wieder ohne ihn.“ An einem der letzten Tage dieses lauen Frühlings erkennt die Frau schließlich, wohin für sie die Reise geht. Da ist der Himmel über London längst wieder voller Flugzeuge.

Äußerlich passiert nicht viel in diesem Roman, aber innen drin, da arbeiten Vulkane. Das muss man mögen, um das Buch zu mögen. Ich mag es. Vielleicht, weil mir diese Art des assoziierenden Herumstreifens selbst sehr vertraut ist, bei dem sich Momentaufnahmen der Umgebung mit Bildern, Geräuschen und Gerüchen von anderen Orten verbinden, mit Erinnerungen an andere Menschen und an vergangene Zeiten, mit dem Wissen auch um die Geschichte eines Ortes. Nach der Lektüre verspüre ich große Lust, mich mit den Skizzen von Gudrun Leutenegger im Kopf sofort auf den Weg nach London und ins kornische Penzance zu machen. Und ich freue mich schon darauf, zukünftig mit noch mehr Aufmerksamkeit herumzustreifen, wo auch immer.

Ich glaube übrigens nicht, dass es darauf ankommt, der Erzählerin (Autorin) zu allen Bildern und durch all ihre Assoziationen zu folgen. Nicht jeder ihrer Vergleiche überzeugt mich: „Dass uns ein Fremder in sein Inneres einlässt, ist erregend, von solcher Wärme und ebenso unbegreiflich, wie von ihm umgebracht zu werden.“ Also, ich weiß nicht… Und dass nicht nur unter dem Kirchturmdach auf dem Pfarrhof des Onkels Schleiereulen wohnten, sondern eine auch auf das Kissen gestickt war, an das sich der junge Mann „in der kalten Kirche lehnte, die mitten in einem dieser Friedhöfe über dem Meer steht, welche meine Großmutter oft mit mir aufsuchte,“ das ist mir, ehrlich gesagt, ein bisschen viel. Aber es ist auch nichts daran gelegen. Der besondere Reiz dieses Romans liegt für mich am Ende darin, dass er Erinnerungen und Assoziationen weckt. An eigene Streifzüge. An Orte der eigenen Kindheit. An Momente, in denen die Zeit still zu stehen schien beim Erzählen. Und an andere, in denen es schien, als sei wirkliche Nähe überhaupt nur in der Distanz möglich. Und die Sprache: Ahhhh…!

Weitere Besprechungen zu dem Roman im Rahmen des LongListLesens 2014 gibt es bei Claudia auf dem Grauen Sofa und bei Annas Buchpost.

Wie Donnerhall

George Saunders: Zehnter Dezember. Stories. München 2014

042_87427_141960_xlDa ist der Ehemann und Vater, der seine Familie drangsaliert. Schon lange kommuniziert er nur noch über ein Kruzifix-ähnliches Gestell im Garten, das er immer wieder umdekoriert. Zuletzt hängt er Zettel daran. „Liebe“ steht auf dem einen, „Vergebung?“ auf einem anderen.

Da ist der Junge, der zufällig Zeuge wird, wie das Nachbarmädchen entführt zu werden droht. „Kyles Herz sang. Er hatte immer geglaubt, das wäre nur eine Phrase. Alison war wie ein Nationalheiligtum. Im Lexikon sollte unter ‚Schönheit’ ein Foto von ihr in diesem Jeansrock sein. Obwohl sie ihn in letzter Zeit anscheinend nicht so richtig mochte. Jetzt ging sie ein Stück über ihre Terrasse, damit der Zählerableser ihr etwas zeigen konnte. Irgendwas Elektrisches auf dem Dach nicht in Ordnung? Der Kerl schien ganz begierig zu sein, es ihr zu zeigen. Genauer gesagt, er hielt sie am Handgelenk. Und zerrte irgendwie so.“ Noch ist die Situation nicht ganz in Kyles Bewusstsein vorgedrungen. Vielleicht irrt er sich auch. Und außerdem sind da all die Gebote und Verbote der Eltern, die sich wie der Strick eines Henkers immer enger um seinen Hals legen und ihn am Eingreifen hindern…

Ich will nicht zu viel vom Inhalt der Geschichten verraten. Denn es macht einen großen Teil ihrer Faszination aus, dass sie immer wieder überraschende Wendungen nehmen. Manches ist nicht, was es auf den ersten Blick zu sein scheint. Oft schwingt ein leises Grauen mit, auch Brave New World lässt grüßen. Menschen haben viele Schichten. Was wir zu sehen bekommen, sind Facetten, nie das Ganze, und es sind auch immer wieder andere Facetten. Menschen sind unvollkommen, und sie leben in einer unvollkommenen Welt. Sind schwach, machen Fehler, manchmal furchtbar schlimme. Aber sie können auch über sich hinauswachsen, über die Umstände und über die Vergangenheit. Man kann sich entscheiden, so oder so. Und man trägt die Konsequenzen, so oder so. Nur selten lautet ja die Wahl: „reich und glücklich“ oder „arm und unglücklich“. Gut, dass auch die anderen immer wieder über sich hinauswachsen. „Vergebung?“ Brauchen wir die nicht alle?

Gerade habe ich die zehn Stories des Amerikaners George Saunders ausgelesen, die vor ein paar Monaten unter dem Titel „Zehnter Dezember“ in der Übersetzung von Frank Heibert erschienen sind. Sie wirken nach wie Donnerhall! Es sind ganz und gar außergewöhnliche Psychogramme von eher „gewöhnlichen“ Menschen und Lebenswelten. Als Leser taucht man tief hinein in die Köpfe der Protagonisten. Mal ist der Ton knapp, beinahe schon karg, ein anderes Mal von unbändiger Lust am Fabulieren gekennzeichnet. Immer wieder umgangssprachlich, aber nicht flach. Temporeich. Voller Zärtlichkeit. Auch komisch bisweilen, wenngleich ich dieses leichte Grauen stärker empfand, nicht nur in den Science-Fiction-Passagen.

Für die sprachliche Brillanz der Erzählungen gebührt auch dem Übersetzer ein dickes fettes Lob. Eine kurze Sequenz über einen Mann, der in Folge eines Gehirntumors Schwierigkeiten mit der Artikulation hat, mag dies illustrieren: „Jeder Schritt war ein Sieg. Das durfte er nicht vergessen. Mit jedem Schritt floh er veiter und veiter. Veiter veg von den Vätern. Stiefveiter. Welch einen Sieg entrang er. Dem klaffenden Schlund darniederlag. Hinten in seiner Kehle spürte er ein Bedürfnis, es richtig zu sagen. Dem klaffenden Schlund der Niederlage. Dem klaffenden Schlund der Niederlage.“

Mit meiner Begeisterung für den jüngsten Saunders stehe ich nicht allein da. „Das beste Buch, das Sie in diesem Jahr lesen werden.“ So urteilte das New York Times Magazine nach Erscheinen der Originalausgabe 2013. Einen kurzen Verriss gibt es im Literaturblog von Günter Keil zu lesen.

Wüsten(ver)führer

Otl Aicher: Gehen in der Wüste. Frankfurt 2005 (TB)

Jürgen Werner: Wüstenwandern. Unterwegs am Rande der Unendlichkeit. Stuttgart 2005

Das ohnehin schon gefährlich spannende Blog Sätze&Schätze ist für mich jüngst noch um einiges gefährlicher geworden. Seit es seiner Betreiberin Birgit gefiel, die neue Kategorie Reiseliteratur ins Leben zu rufen, um genau zu sein. Und nun schickt sie ihre Leser auch noch in die Wüste. Ausgerechnet. Wie soll man denn da ruhig am Schreibtisch sitzen bleiben? Aber wer weiß, vielleicht soll man das ja gar nicht.

P1030322Zumindest in Gedanken nehme ich mir jetzt einfach eine Auszeit und blättere in zwei großformatigen Wüsten(ver)führern, auf die ich hier schon längst einmal hinweisen wollte. Vom Gehen in der Wüste erzählen beide, in wunderbar klugen Texten und mit Bildern, die einem die Tränen in die Augen steigen lassen, so schön sind sie. Ach, ich könnte schwärmen ohne Ende. Und Zitat an Zitat reihen:

P1030302„die wüste ist eine denklandschaft. man geht nicht nur zwischen dünen, man geht auch in seinem eigenen denken umher, man macht gedankengänge. im gehen verändert sich die landschaft von bild zu bild. es verändert sich auch der gedankenhorizont. das auge zieht es mal hier, mal dort hin, auch die gedanken wildern umher. man wirft sie hinaus, als entwürfe. so ist ein nicht eigentlich geschriebenes buch entstanden. es hat keinen anfang, kein ende, keinen roten faden. man mag deshalb auch nachsichtig sein einer typographie gegenüber, die verschlungen ist wie ein gang durch dünen.“

 

P1030314Der das schrieb, war Grafiker durch und durch: Otl Aicher (1922-1991), Mitbegründer der Hochschule für Gestaltung in Ulm und einer der bedeutendsten Kommunikationsdesigner des 20. Jahrhunderts. Den Wüstengänger Aicher zog es wiederholt in die Sahara, allein oder in Begleitung seines jüngsten Sohnes und eines befreundeten Architekten. Was von diesen Reisen blieb, ist nicht mehr und nicht weniger als ein grafisches Gesamtkunstwerk, das in der Tat dazu einlädt, es mäandernd zu genießen. Zu blättern, spontan dem Sog eines Bildes nachzugeben, ein paar Zeilen oder auch Seiten zu lesen, erneut und mit noch mehr Tiefe in die Bilder einzutauchen oder auch mal in eigene Gedanken und Erinnerungen, irgendwann weiterzublättern, um an anderer Stelle erneut zu verweilen.

P1030305Dem Sprach- und Kulturwissenschaftler Jürgen Werner folgt man am besten chronologisch durch sein ebenso praktisches wie spirituell-philosophisches Wüstenwanderbuch. Werner hat immer wieder Zeit mit und bei den Beduinen auf dem Sinai und im Süden Jordaniens verbracht, in deren Kultur ich selbst erst vor wenigen Monaten allererste zarte Einblicke gewann. Ein paar Bilder genügen, und sofort ist es zurück, dieses Gefühl von Stille und unendlicher Weite. Ah… bittersüßes Fernweh!

P1030295„Keine Wüste lädt uns zum Verweilen ein. Sie ist ein atemberaubend schöner, aber auch ein unwirtlicher Ort. Kein Platz, an dem man heimisch werden und sich niederlassen kann. Die Wüste ist ein Ort, den man durchquert. … In der Wüste sein heißt unterwegs sein, nicht nur in einer räumlichen, sondern auch einer seelischen Dimension. Wanderer in der Wüste sein heißt auch Wanderer zu sich selbst sein, das eigene Seelengepäck auf dem Rücken.“ Jürgen Werner empfiehlt Wüstenreisenden, sich eine Frage mitzunehmen, die beantwortet, ein Problem, das gelöst, eine Entscheidung, die getroffen werden will. Er weiß: „Entscheidungen, die du auf einem Wüstenweg triffst, können nicht falsch sein, denn sie kommen aus deinem tiefsten Inneren. Du musst nichts anderes tun, als die Empfehlungen der Wüste zu befolgen.“

Bücher retten

„Wenn du drei Bücher vor der Apokalypse, die alle anderen Bücher auf dem Planeten zerstört, retten könntest – welche wären es? … Welche Bücher sind es wert, gerettet zu werden? Welcher Lesestoff muss unbedingt vor der Apokalypse bewahrt werden? … Das Wichtigste dabei ist natürlich das Warum: Warum sind es genau diese drei und nicht andere? Die Entscheidung ist keine leichte. Daher sollte man sich beschränken – sagen wir auf eine Begründung in nicht mehr als 140 Zeichen pro Buch.“

Was für ein Spiel! Begonnen hat es auf dem Blog texte und bilder und greift um sich wie ein Feuer. So viele bauen mit an dieser besonderen Bibliothek. Ich bekam die Maurerkelle von Kai vom skyaboveoldblueplace (Vorsicht: Festlesegefahr!)  in die Hand gedrückt, der weiß, dass ich für Ketten-Aktionen normalerweise nicht zu haben bin, aber wohl geahnt hat, dass Bücher-Retten eine Maßnahme ist, die eine Ausnahme erfordert.

Hier also meine ziemlich spontane Auswahl (bloß nicht zu lange nachdenken, sonst geht man vor lauter Zweifeln mit allen Büchern unter):

Geert Mak: In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert.
Zur Erinnerung. Und um nach Möglichkeit ein paar Fehler zu vermeiden. So viele Orte. So viele Menschen.

Albert Vigoleis Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts. Aus den angewandten Erinnerungen des Vigoleis.
Es könnte lange dauern, bis wieder mal einer so ein sprachmächtig-farbenfroh-bizarr-dramatisch-komisches Gesamtkunstwerk hinbekommt.

Rainer Maria Rilke: Die Gedichte (die Dünndruckausgabe aus dem Insel Verlag)
Ohne Rilke gehe ich nirgends hin. Punkt.

P.S. Ich habe darauf geachtet, dass keines der Bücher weniger als 900 Seiten dick ist. Wir wollen schließlich etwas davon haben.

Zwei weitere Blogger soll ich nun noch bitten, jeweils drei wichtige Bücher zu retten. So sind die Regeln. Ich bitte also Roswitha, die in ihrem Photolaboratorium immer wieder ganz besondere Blicke in die große weite und manchmal auch ganz kleine Welten öffnet, und ich bitte Saša Stanišić, dessen gerade ausgezeichneter Roman „Vor dem Fest“ auch mir ganz ausgezeichnet gefallen hat und der unvorsichtig genug war, seine Blogadresse zu hinterlassen. Und erlaube mir hinzuzufügen: Alles kann, nichts muss! Aber freuen würde ich mich.

Aneignung der Welt

Hanns-Josef Ortheil: Die Moselreise. Roman eines Kindes. München 2012 (TB)

34502097nClaudia hat beim Surfen auf dem Grauen Sofa festgestellt, dass in der vergangenen Woche offenbar viele Blogger den Impuls verspürt haben, (literarisch) auf Reisen zu gehen. Ich nutze die Gunst der Stunde, um noch eine kleine Perle hinterher zu rollen, die mir vor kurzem in die Hände fiel: Die Moselreise von Hanns-Josef Ortheil.

Wenn ich nur eine Textpassage zitieren dürfte, um einen Eindruck von dem Buch zu vermitteln, dann wäre es vielleicht diese:
„Ein Privatquartier ist eine richtige Wohnung, in der eine Familie wohnt. Im Zimmer des Privatquartiers hört man die Familie wohnen, direkt nebenan. Will man im Privatquartier auf die Toilette, muss man durch den Flur der Wohnung. Dann spricht die Familie, die in der Wohnung wohnt, einen an und sagt einem, wo die Toilette ist. Kommt man von der Toilette zurück, spricht einen die Familie wieder an. Das ist anstrengend.“

Man merkt, da beschreibt ein Kind eine ihm noch ziemlich fremde Welt. Dieses Kind beobachtet sehr genau und es bringt minutiös zu Papier, was es beobachtet. Das ist bisweilen irritierend, manchmal unfreiwillig komisch – und sehr anrührend. Ganz besonders, wenn man sich die Hintergründe dieses Romans eines Kindes vergegenwärtigt. Die Moselreise ist ein Reisetagebuch, es ist die Erzählung einer fast zweiwöchigen Wanderung, die der damals elfjährige Hanns-Josef Ortheil im Sommer 1963 zusammen mit seinem Vater unternommen hat. Ortheil war es damals schon ein paar Jahre gewohnt, täglich zu notieren, was er sah und hörte. Darüber, wie dieses „manische Schreiben“ entstanden ist, ja, wie das Kind seit seinem siebten Lebensjahr buchstäblich um sein Leben schrieb, davon erzählt Ortheil in seinem 2009 erschienenen autobiografischen Roman Die Erfindung des Lebens. Ein Meisterwerk, wie ich finde, aber eben auch ein ausgewachsener Ortheil, was unter anderem bedeutet: 400 Seiten dicker als die Moselreise des Elfjährigen, die, ergänzt um Essays des Autors zu Entstehung und Weiterwirken, erstmals 2010 veröffentlicht wurde.

In beiden Büchern geht es um Ortheils Aneignung der Welt durch die erst spät gefundene Sprache und um die wichtige Rolle, die der Vater bei dieser Selbstbefreiung gespielt hat. Ein Vater, wie man ihn sich klüger und einfühlsamer kaum wünschen könnte. Durch die allmähliche Annäherung an die Welt, in der der Vater zu Hause ist, verliert die Fremde auch für den Jungen Stück für Stück ihre Bedrohlichkeit. Ich kann darüber nur Vermutungen anstellen, aber den Gang zur Toilette in einem Privatquartier wird er am Ende der Moselreise kaum noch anstrengend gefunden haben. Denn dank des Vaters hatte er inzwischen auch gelernt, mit fremden Menschen ins Gespräch zu kommen.

Leipziger Allerlei

P1010803Spontan und ohne Anspruch auf Vollständigkeit zehn Eindrücke vom Besuch der Leipziger Buchmesse 2014, die mir in Erinnerung bleiben werden:

P1010913Dass die Nikolaikirche, von der Ende der 1980er Jahre die Montagsdemonstrationen ihren Ausgang nahmen, immer noch voller Leben ist. In diesem Fall voller Schüler, die gebannt Hanna Schotts „Wendewundergeschichte“ von Fritzi folgten, die damals dabei war.

P1010945Überhaupt die Schönheit andächtig lauschender Menschen.

P1010995Eine kurze Begegnung mit Navid Kermani. Das war ein Muss, nachdem ich Birgits wunderbar persönliche Besprechung seines Romans „Große Liebe“ auf Sätze&Schätze gelesen (eigentlich eher: verschlungen) hatte. Den Kermani (die „Große Liebe“ natürlich) habe ich nun auch verschlungen (an einem langen Abend zwischen zwei Messetagen). Da passt alles: Klug wirkt Kermani, sehr aufmerksam, warmherzig, dabei ein wenig distanziert, wie einer, der sich nicht leicht preisgibt. Ein „Madschnun“, ein Verrückter wie der große persische Liebende, ist ja bei aller Selbstvergessenheit auch der Junge in seinem Buch nicht.

P1010949Die sprühende Lebendigkeit von Feridun Zaimoglu. Auf meiner Leseliste ist sein Roman „Isabel“, eine Liebesgeschichte ganz anderer Art, allerdings nicht deswegen, sondern wegen Zaimoglus eher beiläufiger Bemerkung gelandet, er habe beim Schreiben 15 Kilo abgespeckt, um der mageren zornigen Isabel sprachlich gewachsen zu sein.

P1020002Die Lust, mit der sich die vielen Manga-Kids auf dem Messegelände selbst inszenierten.

P1010953Dass Saša Stanišić für seinen zweiten Roman „Vor dem Fest“ den Belletristik-Buchpreis gewonnen hat. Ich bin zwar noch ganz am Anfang, aber soviel kann ich jetzt schon sagen: Das Buch ist ein Fest!  Und der Autor sowas von sympathisch: sehr selbstbewusst und zugleich bodenständig-natürlich. Wahl-Hamburger noch dazu. Nicht dass das wichtig wäre, aber doch irgendwie nett. Das Foto zeigt übrigens den kleinen Neo, Minuten, bevor er die wahrscheinlich erste Widmung seines Lebens erhält, auf dem Arm seiner Mama, die bereits eifrig in dem Buch schmökert. Ich hoffe, dass der dritte Roman Stanišićs, eine Familiengeschichte, erscheinen wird, bevor Neo lesen gelernt hat.

P1010978Die Direktheit von Michael Ballhaus. Hat dieser großartige Kameramann, der leider seit ein paar Jahren nicht mehr arbeiten kann, weil die Augen zu schwach geworden sind, und den ich immer für den Inbegriff eines Gentleman gehalten habe, wirklich gesagt, dass Jack Nicholson sich bei den Dreharbeiten zu XYZ wie eine Sau aufgeführt hat? Ein Grund mehr, Ballhaus‘ Biografie „Bilder im Kopf“ zu lesen.

P1010840Der Buchtitel „Der Allesforscher“. Für einen neugierigen Menschen die Verheißung schlechthin. Ein Wort so schön wie „Universalgelehrter“. Der Titel war übrigens zuerst da. Aber was der Autor Heinrich Steinfest, der bisher vor allem Krimi-Lesern bekannt sein dürfte, im Gespräch mit Denis Scheck („Druckfrisch“) über den Inhalt verriet, hört sich auch gut an: ein explodierender Wal, ein Manager, der in der Folge zum Bademeister implodiert, ein verwaistes Kind, das nicht spricht, aber sonst ungewöhnlich talentiert ist…

P1020094Die wahrscheinlich begabtesten Nachwuchskünstler der Stadt: die Buchkinder Leipzig, die an der Schwelle zum Schriftspracherwerb unter der Anleitung von Rulo Lange phantastische Bilderbücher gestalten, mit Texten, die weder alter noch neuer Rechtschreibung folgen sondern etwas ganz Eigenem, das man vielleicht Recht-Sprechung nennen könnte, wenn der Begriff nicht schon besetzt wäre. Jedenfalls liest man sich die Geschichten am besten laut vor um sie zu verstehen.

P1010927Last but not least: die Freundlichkeit der Menschen. „Geht nicht“ und „Gibt es nicht“ scheinen Wendungen zu sein, die im Sprachgebrauch eines durchschnittlichen Leipzigers nicht vorkommen. Wenn das ein Unternehmen wäre, würde ich sagen, die haben einen Chef, der darauf achtet, dass mit den Kunden ordentlich umgegangen wird. Aber wie macht das eine Stadt, dass man noch beim Einkauf eines Regenschirms den Eindruck hat, ganz besonders willkommen zu sein? Ganz zu schweigen von dem Glücksgefühl, das sich einstellt, wenn einem noch schnell ein Stuhl in die eigentlich längst ausgebuchte Veranstaltung gerückt wird. Ist mir nicht nur einmal passiert. Danke, Leipzig!

So ein Zufall!

Gestern Nachmittag in einer Hamburger Buchhandlung meines Vertrauens. Den Plan, nur schnell Geschenke für die Geburtstags-Nichten einzukaufen, hatte ich längst ad acta gelegt. Bis ich die Kinderbuchecke ganz hinten im Laden auch nur erreichte, hatte mir schon ein halbes Dutzend Titel für Erwachsene mal fordernd, mal schmeichelnd, aber immer verheißungsvoll „Nimm mich mit!“ zugerufen. Inzwischen saß ich mit meinem vielstimmigen Chor, zu dem sich Dank der Buchhändlerin auch noch eine reiche Auswahl an unbedingt empfehlenswerter Kinder- und Jugendliteratur gesellt hatte, in der Leseecke des Geschäfts und schmökerte vor mich hin.

„Es war ein trüber Samstag im Frühjahr, als diese unglaubliche Geschichte so harmlos anfing“, las ich gerade, als eine ältere Dame im Sessel neben mir Platz nahm. „Der Morgen hätte auch zu einem verirrten Novembertag gehören können. Der graue Himmel konnte die schweren Wolken kaum noch tragen. Sie hingen so tief, dass sie schon fast die Häuser berührten. Alles war grau: Erde und Himmel. Sogar Ninas Vater und Mutter sahen auf einmal irgendwie grau aus…“ Ich schaute auf – und musste lachen. Meine Leseecken-Nachbarin blätterte doch tatsächlich auch in Rafik Schamis Herz der Puppe. „Für meine Enkelin“, sagte sie. „Für meine Nichte“, erwiderte ich.

Bei der Dame war es übrigens genau umgekehrt: Sie hatte gerade Ein Regenschirm für diesen Tag (brauchen wir zumindest hier im Norden heute nicht) von Wilhelm Genazino ausgelesen – das Buch könne sie mir sehr empfehlen, erklärte sie – und war in die Buchhandlung gekommen, um sich einen neuen Genazino zu holen, als der Schami „Nimm mich mit!“ rief. Das mache sie eigentlich immer so, sagte sie. Ja, ein kleines Geschenk für die Enkelin einkaufen, das auch, aber vor allem: gleich noch weitere Bücher von einem Autor lesen, der ihr gefallen hat. Einmal habe sie drei Jahre lang nur Thomas Bernhard gelesen, Österreicher wie sie, 70 Bücher insgesamt. Der Bernhard sei ihr so nahe gegangen, da sei einfach kein Raum für andere Autoren gewesen.

Wie wir von Thomas Bernhard und Österreich auf Kästner, Ringelnatz und Rilke kamen, erinnere ich nicht mehr. Aber es erstaunte mich nicht im Mindesten, als die alte Dame plötzlich ein Gedicht nach dem anderen rezitierte. Ach, ich hätte ihr ewig zuhören können…! „Und Mascha Kaléko, nicht zu vergessen“, sagte sie plötzlich. Das glaube ich jetzt nicht! dachte ich. Ich weiß nicht, wie viele Jahre ich nicht mehr an Mascha Kaléko gedacht hatte. Bis ich vorgestern auf dem Literatur-Blog Sätze & Schätze, das mir schon manchen Leseschatz geschenkt hat, auf ihr wunderbares Gedicht Sozusagen grundlos glücklich stieß. Und nur einen Tag später legt mir eine österreichische Hamburgerin Kalékos nicht minder großartiges Interview mit mir selbst (ich empfehle die Audio-Datei) ans Herz… Lesen verbindet, soviel ist sicher.