Krieg in Äthiopien

Fünf Jahre ist es her, dass ich den Norden Äthiopiens bereisen durfte. Die Bilder, die sich in den Geralta-Bergen und im Simien-Gebirge tief in meinen Kopf und mein Herz prägten, kann ich jederzeit vor das innere Auge rufen. Die vielen Begegnungen mit Menschen in den Regionen Tigray und Amhara, sie wirken bis heute nach. Heute… heute herrscht dort Krieg.

Seit Wochen spitzt sich der Kampf zwischen der Zentralregierung von Ministerpräsident Abiy Ahmed und der Regierung der Region Tigray an der Grenze zu Eritrea zu. Am Wochenende meldete Abiy, dass die tigrinische Hauptstadt Mekele von der Armee erobert worden sei. Menschenrechtsorganisationen berichten von Massakern zwischen Angehörigen der Volksgruppen der Tigray und Amhara, bei denen es Hunderte zivile Opfer gegeben habe. Mehr als 40.000 Menschen sind bereits aus Tigray in den Sudan geflohen. Täglich werden es mehr. Telefon- und Internetverbindungen in der Region sind seit Wochen abgeschnitten. Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln wird immer kritischer.

Ein Land steht vor dem Zerfall. Dabei hatte es so viele Hoffnungen gegeben, als Abiy Ahmed 2018 die Regierung übernahm. Hoffnungen auf tiefgreifende Reformen, die in dem Vielvölkerstaat Äthiopien sehr lange niemand für möglich gehalten hatte. Anfang der 1990er Jahre hatten Rebellen aus Tigray das marxistische Militärregime gestürzt und waren danach für Jahrzehnte ins Zentrum der Macht gerückt, obwohl sie nur einen kleinen Teil der Bevölkerung stellen. Auch der verstorbene frühere Machthaber Meles Zenawi stammte aus der Region. Abiy hingegen gehört zum Volksstamm der Oromo, Äthiopiens größter ethnischer Gruppe. Er beendete den langjährigen Krieg mit dem Nachbarn Eritrea, er ließ mehr Offenheit zu, Dissidenten aus dem Ausland konnten zurückkehren. Erst vor einem Jahr erhielt Abiy den Friedensnobelpreis für seine Reformen am Horn von Afrika. Doch es gab auch schon früh Zweifel an seiner Fähigkeit, Frieden zu stiften. Gerade die Öffnungen, die Zerschlagung der alten repressiven Strukturen, sagen viele, hätten die schwelenden Konflikte zwischen den Ethnien noch befördert. Inzwischen, so scheint es, führt Abiy selbst ein zunehmend repressives Regiment. Das Fass zum Überlaufen gebracht hatte die Verschiebung der für August anstehenden Wahlen wegen der Covid-19-Pandemie. Da sich Abiy der Wahl verweigert habe, sei seine Regierung verfassungswidrig, befand die Volksbefreiungsfront von Tigray und ließ selbst Regionalwahlen abhalten, was wiederum Vertreter des Zentralstaats als verfassungswidrig bezeichneten.

Und während am Horn von Afrika alte Rechnungen beglichen werden und die Katastrophe anscheinend unaufhaltsam ihren Lauf nimmt, denke ich an die Menschen, denen wir auf unserer Reise begegneten – und ich frage mich, wie es ihnen heute gehen mag. Den vielen Kindern und Jugendlichen, die schon so früh Verantwortung tragen, ganz buchstäblich. Den Priestern, oft im Nebenberuf Bauern (oder war es umgekehrt?), die uns mitnahmen in ihre Kirchen zwischen den Felsen. Und all den anderen…

Meine alten Reiseberichte aus Äthiopien findest du unter der Rubrik „Reiseschnipsel“.

Und alle Zeit ward Gegenwart

Ich hörte seine Melodie, bevor ich ihn sah. Zart und ein wenig melancholisch lenkte sie meinen Schritt. Bis ich vor dem Alten stand, der inmitten ungezählter Stoffbündel, die er wie ein vielfarbiges Iglu um den Leib drapiert hatte, an der Alster hockte und blies. Auf den ersten Blick wollten die Flötentöne so gar nicht zu dem wettergegerbten Gesicht und den rissigen Händen passen, die sie hervorriefen. Dann verbanden sich Gesicht und Hände und Klänge. Und zu den gerade gehörten gesellten sich alte, beinah schon vergessene…

*

Es war mein letzter Abend in Santiago de Chile. Die anderen waren schon abgereist. Noch einmal wollte ich im Café Patagonia essen. Ich hatte Glück, draußen war ein kleiner Tisch frei. Während ich in der Karte blätterte, zogen ungeordnet Bilder der zurückliegenden Wochen über die innere Leinwand. Valparaíso, die morbide Schöne auf den bunten Hügeln am Wasser. Die atemberaubenden Sonnenauf- und -untergänge in der Atacama-Wüste, die die Salzkordillere und den alles überragenden Licancabur in ein Meer von Gelb bis Violett tauchten. Seen in allen Blau-, Grün- und Braunschattierungen, gleichschenklige Vulkane mit und ohne Schneekuppe, mit und ohne Rauchfahne. Und schließlich Patagonien! So viele Jahre schon war mir der äußerste Süden Amerikas durch Kopf und Herz gegangen, diese wind- und wettergepeitschte Ecke, die beim Blättern in Chile- und Argentinien-Reiseführern Sehnsüchte und Depressionen gleichermaßen auslösen kann. Patagonien, das eine Freundin nur „Pantalonien“ nennt, weil immer mit Schnee und Regen zu rechnen ist und das man deshalb auch im Hochsommer nicht ohne warme Hosen bereisen sollte – uns schenkte es Tag um Tag weite Blicke auf die majestätischen Torres und Cuernos del Paine.

Einen passenderen Ort als das Patagonia konnte ich mir für meinen Abschiedsabend nicht vorstellen. Der Kellner empfahl ein Fischgericht. Ein paar Tische weiter spielte ein junger Mann Flöte. Nach einer Weile kam er auch an meinen Tisch, mit wallendem Haar und Vollbart, in überlangen kurzen Hosen, ziemlich blass das ernste Gesicht. „Ich würde dir gern etwas für die Musik geben, habe aber nur einen 5000-Peso-Schein“, sagte ich. Er lachte: „Umso besser.“ Ich: „Wenn du wechseln kannst…?“ Er: „Kein Problem.“ Ich drehte mich zur Seite – und sah, dass meine Tasche nicht mehr über der Stuhllehne hing. Gestohlen! Dabei war es immer noch taghell. Und die Lehne zeigte zur Hauswand des Cafés. Was für ein geschickter, aber auch: was für ein dreister Dieb!

Der herbeigerufene Kellner verschwand gleich wieder im Lokal. Als er zurückkehrte, teilte er mir mit, dass meine Bestellung storniert sei. Ich war überrascht, erklärte, dass ich gerne wie geplant essen und am nächsten Tag bezahlen würde. Der Kellner verschwand abermals. Der junge Flötist, der immer noch an meinem Tisch stand, sagte, er fühle sich irgendwie schuldig. Und er hoffe, dass mich das Café wenigstens zum Aperitif einladen werde. Ich lächelte ebenso dankbar wie zuversichtlich, und er ging.

Es erschien die Geschäftsführerin. Noch einmal erklärte ich, dass ich gerne essen und am folgenden Tag zahlen würde. Sie lehnte ab. Mein Hinweis, dass der Diebstahl immerhin in ihrem Lokal passiert sei, rief nicht mehr als ein Achselzucken hervor. Das, so sagte sie, käme jeden Tag vor. Geld, Handys, Taschen – alles werde geklaut. Außerdem sei der Diebstahl ja nicht  i m  Lokal sondern draußen geschehen.

Ich ging. Ich fühlte mich einsam und gedemütigt. Und ich war wütend. Stürmte ins Hotel, merkte, dass ich nicht bleiben und zu Bett gehen wollte, tauschte das Sommerröckchen gegen eine Jeans, stopfte meine Kreditkarte in die Hosentasche und rannte wieder los, Richtung Plaza de Armas. Überholte Dutzende Einheimische. Nur weiter, immer weiter! Ja, ich fühlte mich einsam, aber auch frei und stark, wie ich so durch die Straßen pflügte. Abrupt stoppte ich an einem Bankautomaten und wusste: Ich würde mir meinen Abschiedsabend von niemandem kaputt machen lassen! Ich würde mir ein richtig nettes Lokal suchen und fürstlich speisen – jetzt erst recht!

Nur wenige Schritte vom Café Patagonia entfernt wurde ich fündig. Und während ich in dem namenlosen Restaurant die vermutlich beste Pasta Chiles und einen cremig-schmelzenden Käsekuchen genoss, der „Bella Martha“ zur Ehre gereicht hätte, dazu einen guten Sauvignon blanc, ertönte von draußen die schon vertraute Musik – „und alle Zeit ward Gegenwart“.

Ein Haus bei Nacht durch Strauch und Baum
Ein Fenster leise schimmern ließ,
Und dort im unsichtbaren Raum
Ein Flötenspieler stand und blies.

Es war ein Lied so altbekannt,
Es floss so gütig in die Nacht,
Als wäre Heimat jedes Land,
Als wäre jeder Weg vollbracht.

Es war der Welt geheimer Sinn
In seinem Atem offenbart,
Und willig gab das Herz sich hin
Und alle Zeit ward Gegenwart.

Hermann Hesse, Flötenspiel

Ich zahlte und verließ das Lokal. Vor mir stand der junge Flötenspieler und lächelte. Endlich konnte ich ihm ein Trinkgeld für die Musik geben. „Zurückkommen?“ fragte er mich plötzlich in meiner Sprache. „Un día?“ Ja. Eines Tages.

*

Und jetzt in Hamburg floss ein neues Lied in den Tag, weniger virtuos als das chilenische vielleicht, aber nicht minder gütig. – Die Fotos zeigen Murals aus Valparaíso.

Gedanken im Sommer

Im Sommer / nachts / in der Hütte / am Meer / roch ich im Luftzug vom Fenster / plötzlich / den Schnee

und ich hatte Angst / das Meer könnte sich / bis zum Morgen verwandeln / in eine Wüste aus Eis

Im Sommer / nachts / in der Hütte / am Meer / schreckte ich hoch / und hatte Angst / das Morgenlicht / könnte ausbleiben / die Nacht bliebe Nacht

und dieses Jahr ginge zu Ende / mit Kälte und Dunkelheit

Paul Kersten: Im Sommer

Es sind wohl die (wieder) steigenden Zahlen von Corona-Kranken und -Toten, die mich beunruhigen. Dass Urlauber am Mittelmeer, wo man gerade noch Leichen stapelte, fröhlich Massenbesäufnisse feiern, dass auch in deutschen Städten Tausende auf Tuchfühlung cornern, als gäbe es kein Morgen, macht mich… nein, wütend trifft es nicht. Dafür bin ich zu müde. Aber fassungslos macht mich, wie leichtfertig wir das zarte Pflänzchen zu zerstören beginnen, das wir in den vergangenen Monaten mit so viel Liebe gepflegt, für das wir auf so viel verzichtet haben. Den nächsten Winter mag ich mir gerade gar nicht ausmalen.

Ich erinnere mich an meine erste Begegnung mit Paul Kersten. Das war Ende der 1970er Jahre. Kersten las aus seinem Erstling „Der alltägliche Tod meines Vaters“. Ich besuchte die Lesung als junge Volontärin einer niedersächsischen Regionalzeitung. Am selben Tag hatte ich den VW Käfer des Verlags auf regennassem Kopfsteinpflaster zu Schrott gefahren und am eigenen Leib erlebt, wie schnell ein Leben am seidenen Faden hängen kann. Ich erinnere mich nicht mehr an jedes Detail, aber ich weiß noch, dass der Text mich, vielleicht auch aufgrund der Begleitumstände, damals sehr erreicht hat. Durch das Buch habe ich zum ersten Mal gefühlt, dass eine Beziehung, die zu Lebzeiten eines Menschen nicht existiert hat, nach dessen Tod nicht mehr hergestellt werden kann.

Das Foto in diesem Beitrag ist ein Archivbild. Ich habe es vor Jahren an einem besonders schönen Morgen am Strand von Usedom aufgenommen. Vielleicht sind meine Sorgen ja ganz unbegründet…

Mit blauen Sternen reisen

Keine Butterblume, kein Löwenzahn entfaltet vergleichbare Wirkung, das Gänseblümchen nicht und auch nicht diese rosafarbenen Puschel, die aussehen wie Flaschenputzer en miniature. Wenn mich etwas verlässlich auf Zeitreise in die eigene Kindheit schickt, dann ist es der Anblick von Vergissmeinnicht. Ein einziges Pflänzchen genügt, um ganze Teppiche kleiner blauer Sterne vor meinem inneren Auge aufleuchten zu lassen…

Darin, bis zu den Knien, Elke, Anke und ich, pflückend, was unsere Kinderhände halten konnten. Mit den Vergissmeinnicht auf der verwilderten Wiese hinter dem Haus trieben wir drei regen Handel. Für einen Spankorb voller Sträuße gab uns die nette Frau R. eine Batterie leerer Joghurtbecher. Ihr Mann, Herr R., leitete unsere Schule, die damals noch Volksschule hieß. Herr R. bewegte sich, als habe er einen Spazierstock verschluckt. Frau R. schien immer Zeit zu haben – und sie verfügte über schier unerschöpfliche Vorräte an säuberlich ausgewaschenen Joghurtbechern aus Plastik. So etwas Kostbares gab es weder bei meinen Freundinnen noch bei uns zu Hause. Nicht weil wir so öko gewesen wären, das war damals noch kein Thema, glaube ich, eher aus Gründen der Sparsamkeit. Zuerst wurde sogar noch Dickmilch auf der Fensterbank angesetzt. Wenn die schön sauer war, streute mein Vater Zucker drauf und brockte Schwarzbrot hinein. Später gab es dann eine Joghurtmaschine. In kleinen Gläschen mit blassorangem Schraubverschluss produzierte meine Mutter fortan Joghurt. Die nette Frau R. und ihr Mann waren moderner, sie kauften ihren Joghurt in Plastikbechern. Offenbar in rauen Mengen, so oft wie wir nach meiner Erinnerung zum Tauschen gingen.

Was wir mit den vielen Bechern anstellten, weiß ich nicht einmal mehr. Mit Wasser rumpütschern, nehme ich an. So Mädchensachen. Das fand vor allem Anke gut, die schon als Grundschülerin ziemlich häuslich war. In unserer Höhle unter dem Essigbaum mit seinen tief hängenden Zweigen, wo wir die komplette „Höhlenkinder“-Saga nachspielten, flocht sie begeistert Matten aus Gräsern. Elke und ich waren mehr der Jägertyp. Mit Inbrunst schnitzten wir uns Pfeil und Bogen und brachten es in ihrer Anwendung zu beachtlicher Treffsicherheit. Keiner der hölzernen Telegrafenmasten im Dorf war vor uns sicher. Oft zogen wir zu den A.schen Wiesen am Rande des Auetals, „Wildpferde“ zähmen. Elke war Winnetou, ich Old Shatterhand. Ich wäre auch lieber Winnetou gewesen, aber Elke hatte die längeren Haare. Anke machte unser Baumhaus neben der Ponyweide schön. Einmal rauchten wir dort zu dritt heimlich eine Zigarette. Natürlich musste ausgerechnet in dem Moment Ankes Vater vorbeispaziert kommen. Ich hatte tagelang Angst, dass er uns verpetzt. Hat er nicht, aber die Angst war mindestens so schlimm. Ich kann sie heute noch fühlen.

Im Baumhaus, das war schon meine zweite heimliche Zigarette gewesen. Die erste hatte ich mit Gunter im Kastanienwäldchen gepafft. Gunter war der beste Freund, den man sich denken kann. Groß, stark und voller aufregender Ideen, die sein Vater allerdings selten toll fand. Fast kein Abend verging, ohne dass der ihm den Hintern versohlte. Manchmal traute sich Gunter erst im Dunkeln heim. Ich höre noch seine Mutter rufen: „Gunter, komm doch nach Hause! Dir passiert auch nichts!“… Weich streicht das Licht der Abendsonne über die Vergissmeinnicht  zu meinen Füßen.

Bahndämme und Auen

Weite Strecken ihrer Kindheit schien sie am Bahndamm und an der Aue verbracht zu haben, die unter der Bahnbrücke dem großen Fluss zuströmte. Am einen Ende ihrer Welt lag das Kastanienwäldchen, am anderen der Mühlenteich. Im Wäldchen hatte sie zusammen mit dem Nachbarsjungen ihre erste heimliche Zigarette geraucht. Da ging sie gerade zur Schule. Auf dem Teich war sie Winter für Winter Schlittschuh gelaufen, manchmal auch auf den überschwemmten und zugefrorenen Wiesen der Aue. Da musste man aufpassen, dass man nicht gegen die Pappeln am Rand lief. Winter, das hieß für sie auch: dauerverstauchte Handgelenke wegen der vielen Stürze. Als sie älter war, war sie am Bahndamm spazieren gegangen, mit der Freundin und den Söhnen des Bürgermeisters. Beste Freundinnen und Zwillingsbrüder, das passte. Vielleicht hatten die Mädchen die selbstgenähten langen Röcke getragen, dunkelblau mit weißen Blüten. So wie die kleinen Sterne, die am Ufer der Aue wuchsen, an der sie gerade Rast machte. Eine andere Aue unter einer anderen Bahnbrücke. Same same but different.

Afrikanisches Erbe

Als sie von Äthiopien erzählte, wurde der alte Mann ganz aufmerksam. Vergessen waren die Klagen über den beschwerlich gewordenen Alltag. Als sei es gestern gewesen, fiel das faschistische Italien in das ostafrikanische Kaiserreich Abessinien ein. 1935 war das, der alte Mann noch ein Junge. Am Radio verfolgte er, wie die Ras, die abessinischen Fürsten, abgeschlachtet wurden. Hunderttausende sollten ihnen folgen, bis das Land endlich von britischen und abessinischen Truppen befreit wurde. Dem alten Mann blieb die Erinnerung an die Ras und eine Empörung, die in 80 Jahren nicht schwächer geworden zu sein scheint.

Von dort war es nur ein Sprung bis zu Afrika-Meyer. Den nannten sie so, um ihn von den anderen Meyer im Ort zu unterscheiden: Von Kanonen-Meyer, dessen Söhne ständig in irgendwelche Schlägereien verwickelt waren. Von Meyer 13, der so viel Pech hatte. Afrika-Meyer, erzählte der alte Mann, war unter Lettow-Vorbeck an der Niederschlagung des Herero-Aufstands im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika beteiligt gewesen, dem ersten Völkermord im noch jungen 20. Jahrhundert. Meyer sprach nicht über die Zeit. So viel weiß der alte Mann noch.

Resonanzen

Beim Verlassen des Bahnhofs frage ich mich das erste Mal, ob ich jemals hier gewesen bin. Die Innenstadt erscheint mir wie eine einzige Fressmeile. War das damals schon so? Kiloläden. Euroshops. Die jedenfalls gab es ganz sicher noch nicht. An Straßennamen kann ich mich erinnern, nicht aber an das, was ich in den Straßen sehe. Kleiner Kuhberg. Exerzierplatz. Knooper Weg. Jungfernstieg. Hier habe ich mal gewohnt. So viele Kirchen. Aber bei mir läutet nichts. Kaum traue ich mich weiterzugehen. Da, die Nummer 14. Das muss es sein.

P1070600Die Fassade ist in hellen Grautönen gestrichen. Ich hatte sie dunkler in Erinnerung. Die Milchglasscheiben, hinter denen sich das Kontor mit den dunklen Eichenholzwänden verbarg, sind durch Klarglas ersetzt. Einblick erhalte ich trotzdem nicht. Sonnenblenden versperren die Sicht. Das Glasfenster in der Haustür erlaubt immerhin einen verschwommenen Blick in den Flur. Ganz hinten sind gerade noch die schweren Schwingtüren zu erkennen, die lärmend aneinander schlugen, wann immer jemand das Haus betrat oder verließ. Neben dem Eingang die Durchfahrt zum Hof. Die rückwärtigen Fenster sind offenbar nie erneuert worden, aber leider ebenfalls verhängt. So bleibt das alte Bild. Genauer: Hinter hohen Einfachglasfenstern entsteht neu das alte Bild – brauner Klapptisch, braune Klappstühle, die Kommode mit der Doppelkochplatte darauf, Waschbecken und Duschkabine. Das Ganze auf flaschengrünem Linoleum. Nein, stimmt nicht. Der Belag in der „Küche“ war graumeliert, der flaschengrüne gehörte zum Kontor, meinem Wohn- und Schlafzimmer, das inzwischen offenbar von einer IT-Firma genutzt wird. Und die Werkstatt des Tischlers, mit dem ich das Klo auf halber Treppe teilte, beherbergt jetzt ein Atelier. Das Firmenschild auf dem Briefkasten ist schön bunt.

P1070606Welche Wege habe ich damals genommen? Wo habe ich eingekauft? Ich erinnere mich nicht. Am vertrautesten sind mir noch die grünen Oasen in der Nähe: der Park, die Teiche. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite springt in großen Lettern ein Wort ins Auge: RESONANZ. Offensichtlich der Name eines Lokals. Hier will ich Rast machen, wenn schon die Umgebung so wenig Echo auslöst. Ich bestelle ein libanesisches Frühstück und eine Kanne frischen Minzetee. Beides duftet und schmeckt herrlich – und weckt die schönsten Erinnerungen, wenn auch an ganz andere und längst nicht so lang zurückliegende Zeiten.

Schnitt. Meine alte Buchhandlung an der Holtenauer Straße gibt es immer noch. Das heißt: eine Filial-Buchhandlung an der alten Stelle. Auf der kleinen Treppe ganz hinten im Laden meine ich D. stehen zu sehen. „Sagen Sie Ihrem Buchhändler, dass Ihr Leben ohne ihn keinen Sinn hat“, fordert das Verlagsplakat im Schaufenster. Ja, und noch einmal ja! Die Tankstelle eine Ecke weiter ist auch noch da. Das heißt: eine Tankstelle. Ungezählte Male habe ich dort Zigaretten gekauft. Damals. Als ich noch rauchte und es nach 18 Uhr nur an Tankstellen lebenswichtige Dinge zu kaufen gab.

Hier irgendwo muss auch die Kneipe gewesen sein, in der wir uns freitagabends mit der Clique trafen. Aber wo genau? An der Stelle, die die Erinnerung preisgibt, finden sich keine Spuren. Dafür kommt mir das Eckgebäude mit dem Fotostudio ungeheuer bekannt vor. Bilder einer denkwürdigen Silvesterfeier tauchen wie aus dem Nichts auf. Tief in Gedanken schlendere ich weiter, registriere, dass es rechts zu meinem letzten Domizil in dieser Stadt geht. Einem Impuls folgend biege ich nach links ab, quere eine Straße, dann noch eine. Ganz am Ende öffnet sich eine Fensterfront, daneben ein paar steinerne Stufen. „Public House & Music Bar“ lese ich. Das sagt mir nichts. Aber es ist doch unverkennbar: meine alte Kneipe! In der offenen Tür lehnt eine Trittleiter. Ich kann mein Glück kaum fassen. Es ist ja noch früh am Nachmittag.

P1070614Langsam steige ich die Stufen hinauf. „Hallo…?“ „Komm nur rein!“, ruft es von drinnen. „Ich wollte… ich glaube…“, stottere ich. Der lange Tresen, das schummrige Licht, genau wie damals! Nur die Fächer vom Sparclub fehlen. „Stand hier nicht früher Christa hinter dem Tresen?“ frage ich halb mich und halb den Unbekannten vor mir. „Nein, Karl!“, sagt der und grinst. „Aber komm doch erst mal rein.“ Er habe den Laden jetzt seit 15 Jahren, erzählt der Mann, der sich Go nennt. „Davor war hier ein Pakistani. Und davor Karl. Karl Stender.“ Nein, Christa! Nein, Karl! Wir wollen uns ausschütten vor Lachen. Christa und Karl! Christa hinter dem Tresen und Karl, wie er am Stammtisch die Tageseinnahmen zählt. „Bist wohl schon eine Weile nicht mehr hier gewesen“, stellt Go schließlich fest. „So bummelig 25 Jahre“, sage ich.

Viel Zeit in einem Menschenleben. Nicht viel an diesem Ort, der die Jahre praktisch unverändert überdauert hat – sieht man einmal von den Aktgemälden in den hölzernen Rundbögen in der Schankstube ab, die erst der jetzige Inhaber in Auftrag gegeben hat. Voller Begeisterung zieht mich der in die benachbarte Hofdurchfahrt, um mir ein wirklich altes „Gemälde“ zu zeigen: eine Reklame für Kümmel und Bier zu Pfennigbeträgen. Die stammt noch aus der Zeit, als im Hof ein Ausspann betrieben wurde, eine Schankwirtschaft mit der Möglichkeit, Pferde aus Fuhrwerken und Kutschen auszuspannen und vorübergehend unterzustellen. Das Wort „Ausspann“ über der Durchfahrt erinnert daran. Ich nehme es an diesem Tag zum ersten Mal wahr.

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