Fremd, relativ

P1060187Heimat – Fremde. Nähe – Distanz. Zugehörigkeit – Fremdheit. Wir – Die. Freund – Feind. Gleichartig – andersartig.

„Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“, wusste schon der Komiker Karl Valentin.

Erst in der Fremde wird das Eigene fremd und ermöglicht so auch neue Formen der Selbsterkenntnis. Je offener einer unterwegs ist, desto mehr.

Das Fremde in uns selbst. Das Bewusstsein der eigenen Fremdheit.

Einer, der mit dem Wechsel der Perspektiven zu spielen gelernt hat, ist der Schriftsteller Stephan Thome. Als Pendler zwischen Asien und Europa ebenso wie als Autor des Roman-Duos „Fliehkräfte“ und „Gegenspiel“ – Szenen einer Ehe erst aus seiner, dann aus ihrer Sicht. In der ZEIT (Ausgabe vom 30. Juni 2016) hielt Thome gerade ein feines Plädoyer für das Reisen.

Über Fremdheit: „Fremdheit ist keine Eigenschaft einer Person oder eines Ortes. Sie spiegelt die Empfindung von Distanz zwischen dem eigenen und dem anderen, dem Vertrauten und dem Neuen.“

Im eigenen Land ebenso wie auf Reisen.

Über Aufbruch und Rückkehr: „Dabei entsteht eine Übersetzung, die jeder Reisende leisten muss: das Fremde in eigene Begriffe fassen, dem Erlebten einen Sinn geben und ihn mit anderen teilen.“

Zum Wohle des Reisenden selbst wie der Daheimgebliebenen.

Fremde

schreiben-gegen-rechts

Anna Schmidt aus Berlin hat zu einer Blogparade aufgerufen:

Schreiben gegen Rechts.

Hier ist mein Beitrag dazu:

 

„Fremde sind Leute, die später gekommen sind als wir: in unser Haus, in unseren Betrieb, in unsere Straße, unsere Stadt, unser Land. Die Fremden sind frech; die einen wollen so leben wie wir, die anderen wollen nicht so leben wie wir. Beides ist natürlich widerlich. Alle erheben dabei Ansprüche auf Arbeit, auf Wohnungen und so weiter, als wären sie normale Einheimische. Manche wollen unsere Töchter heiraten, und manche wollen sie sogar nicht heiraten, was noch schlimmer ist. Fremdsein ist ein Verbrechen, das man nie wieder gutmachen kann.“

Ein Auszug aus dem Text „Fremde“ von Gabriel Laub. Welche Worte würde der 1998 gestorbene Satiriker wohl heute wählen, um dem um sich greifenden Fremdenhass die Stirn zu bieten?

*

In der Gesprächsgruppe behandeln wir gerade das Thema Redewendungen. „Jeder Topf findet seinen Deckel.“ J. strahlt. In seiner Heimat, in Syrien, sagt man das auch, und es hat genau dieselbe Bedeutung wie hier. Aber vor allem strahlt J. wohl, weil er seinen Deckel längst gefunden hat. In ein paar Wochen ist Hochzeit. Dann kommt seine Freundin R. „unter die Haube“. Die jungen Männer aus verschiedenen afrikanischen Ländern sowie dem Nahen und Mittleren Osten gucken ratlos. Unter einer Haube kann sich keiner von ihnen etwas vorstellen. Nach einigem Hin und Her verständigen wir uns auf: Kopfbedeckung irgendwo zwischen Mütze und Schal. Jaha, Sprache kennt Grenzen! Manchmal auch die der Gesprächsgruppenleiter. Noch überraschter waren die Teilnehmer ohnehin zu erfahren, dass die Redensart auf eine in Europa bis in die Neuzeit gepflegte Tradition zurückgeht, nach der verheiratete Frauen ihre Haare unter einer Haube verbargen, um auf diese Weise geordnete Zustände, Anständigkeit und Würde zu demonstrieren.

Zu seiner Hochzeit hat J. die anderen aus der Gruppe eingeladen. M. ist dabei, eine Fahrgemeinschaft zu organisieren. M. ist Afghane und Muslim. J. ist Christ. Vielleicht wird das Fest ein bisschen so wie die Feiern in seiner Heimat, an die er sich erinnert, damals vor dem Bürgerkrieg, als es noch keine große Rolle spielte, welcher Religion einer folgte.

Die Ankunft II

Shaun Tan: The Arrival, 2006

P1130623Ein Mann verlässt seine Heimat. Er lässt Frau und Tochter zurück, um in einem anderen Land ein neues Leben für sich und seine Familie aufzubauen. Es braucht nicht viele Worte, um die uralte immer neue Geschichte von Verzweiflung und Hoffnung, von Abschied und Aufbruch, von Fremde und Einsamkeit, aber auch von Begegnung und Neuanfang zu skizzieren, und sie ist ja auch schon viele Male erzählt worden. Shaun Tan braucht überhaupt keine Worte, und wie er die Geschichte eines jeden Migranten, eines jeden Flüchtlings, eines jeden Heimatlosen erzählt, das ist absolut einzigartig.

Der australische Autor und Illustrator, selbst Sohn von Einwanderern, hat mit seiner Graphic Novel „The Arrival“ eine Bilderwelt geschaffen, die die Grenzen des Statischen zu sprengen scheint und den Betrachter in eine Art Stummfilm aus schwarz-weißen und sepiafarbenen Zeichnungen zieht. Viele Bilder, zu Serien angeordnet, sind nur wenige Zentimeter groß: Gesichter, die wie Nahaufnahmen wirken, Details in einem Raum, Bild-gewordene Erzählungen von Menschen, denen der namenlose Mann auf seiner Reise begegnet. Andere füllen ganze Seiten oder auch mal zwei in dem großformatigen Buch: die Heimatstadt, durch deren wie ausgestorben wirkende Straßen sich dunkle Drachenschwänze winden, das winzige Auswandererschiff auf dem weiten Meer, die Ankunft in der fremden Stadt, deren Skyline entfernt an New York erinnert, die aber so surreal anders ist als alles, was wir kennen, dass sie ebenso gut auf einem anderen Planeten liegen könnte.

Seit das grandiose Bilderbuch bei mir eingezogen ist, habe ich wohl schon Dutzende Male darin „gelesen“. Immer noch schlüpfe ich jedes Mal in die Rolle des Einwanderers und fühle mich genauso fremd wie er – und so unendlich erleichtert, als andere Menschen, oft selbst Gestrandete, dem Neuankömmling ihre Hilfe anbieten. Mit jedem „Lesen“ entdecke ich Details, die der Aufmerksamkeit bisher entgangen waren, erscheint mir das Buch noch tiefer, noch phantastischer und anrührender. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, heißt es. Wie viele Worte müsste man sagen, um diesem Kunstwerk gerecht zu werden?

Auf jeden Fall noch diese: Es ist ein Buch für wirklich jeden, besonders in Zeiten wie diesen. Für Männer, Frauen und Kinder (ab etwa acht Jahren). Um andere zu beschenken oder um sich selbst ein Geschenk zu machen. Und am besten in der gebundenen englischen Originalausgabe, denn die kostet nur etwa die Häfte der (gebundenen) deutschen „Übersetzung“.

Die Ankunft

Kein Mensch ist zu sehen, als ich die schwere Eingangstür des ehemaligen Hotels aufziehe. „Tür immer geschlossen halten“ lese ich, als ich mich umdrehe, um die Tür zu schließen. Leider nirgends ein Hinweis auf die Veranstaltung, zu der ich angemeldet bin. Nicht so toll organisiert! schießt es mir durch den Kopf. Immer noch ist niemand zu sehen. Unschlüssig drehe ich mich einmal um die eigene Achse, als aus dem Untergeschoss leise Stimmen heraufdringen. Ah, dort also! Eine Treppe tiefer lehnen Frauen und Männer an den Wänden, schemenhaft zu erkennen durch eine weitere Tür, dieses Mal aus Glas, die „immer geschlossen“ zu halten ist. „Hallo“, sage ich. „Bin ich hier richtig…?“ Eine Frage, die so oder so ähnlich auch die stellen, die nach mir eintreffen. Einige der Anwesenden nicken. „Ich glaub schon“, kichern ein paar, während sie das Gewicht einmal mehr auf den anderen Fuß verlagern. Wo nur die Referentin bleibt! Schon zehn Minuten über der Zeit! „Da hätte ich mich mit dem Frühstück nicht so beeilen müssen“, sagt die grauhaarige Dame neben mir.

Wieder geht die Glastür auf. Eine kleine Frau im schwarzen Mantel betritt den Flur. Einen kleinen schwarzen Rollkoffer hinter sich herziehend eilt sie durch das Spalier der Wartenden – und ist auch schon hinter der Tür am Ende des Gangs verschwunden. Was war das denn jetzt? Irritierte Blicke wandern hin und her. Die Gespräche sind schon seit ein paar Minuten verstummt. Schließlich wird die Tür am Ende des Gangs geöffnet. Zögernd treten wir einer nach dem anderen in den Raum dahinter. Ich mag meinen Augen kaum trauen. Was für ein Durcheinander! Gleich links sieht es so aus, als hätte dort ein Sitzkreis entstehen sollen, aber was machen dann all die Tische und Stühle, die nach keiner erkennbaren Ordnung über den Rest des Raums verteilt sind? Einzelne Tische und Stühle. Stühle an Tischen. Stühle, die nach vorne zeigen. Stühle, die nach hinten zeigen. Aber wo ist eigentlich hinten und wo vorn? Gibt es irgendwo eine Mitte? Und was sollen wir tun?

Zwei meiner Mitstreiterinnen haben schweigend in dem angedeuteten Sitzkreis Platz genommen, ein Mann setzt sich auf einen der einzelnen Tische. Ich entscheide mich für einen Stuhl an dem Tisch vor der Säule. Gegenüber lässt sich gerade eine Frau mittleren Alters nieder. Wir schauen in dieselbe Richtung, ohne ein Wort zu wechseln. Am Fenster steht die kleine Frau. Den schwarzen Mantel hat sie inzwischen abgelegt, vermeidet aber weiter jeden Blickkontakt. Jetzt dreht sie sich um, eine Rolle Kreppband und einen Edding in der einen und ein Blatt Papier mit einer hufeisenförmigen Grafik darauf in der anderen Hand. Sie zeigt auf das Papier, dann auf die eigene Brust. Sie reisst ein Stück von dem Kreppband ab, schreibt etwas darauf und klebt den Streifen auf ihren Pulli. Ah, alles klar! Unseren Namen sollen wir aufschreiben. Die Ersten legen gleich los.

Aber halt, da war doch dieses Papier mit dem Hufeisen… In einem äußeren Halbkreis sind Zeichnungen zu erkennen: eine Lampe, ein Schiff, ein Affe, eine Uhr, ein Krokodil, eine Maus, eine Zange… und in einem kleineren inneren Kreis daneben Zeichen, die entfernt an Hieroglyphen erinnern, nur einfacher. Offenbar eine Schrift. Konzentriert starre ich auf das Blatt, noch ist der Groschen nicht ganz gefallen. Um mich herum ist es mucksmäuschenstill. Ob wir wohl…? Vorsichtshalber werfe ich noch einen Blick auf den Busen der kleinen Frau. Tatsächlich, auf dem Kreppband sind einige der hieroglyphenartigen Zeichen zu erkennen! Wir sollen unseren Namen schreiben, aber in der fremden Schrift – heureka! Noch einmal schaue ich mir die Bilder an. Maus – Affe – Rad – Esel – Nuss – Maren. Jetzt noch rasch die zugehörigen Zeichen aufs Kreppband malen, aufkleben, fertig! Puh, geschafft!

Von wegen! Jetzt fängt die kleine Frau an zu sprechen. Aber was sagt sie? Ich verstehe kein Wort. Auch in ihrem Gesicht ist nichts zu erkennen. Ihre Miene ist vollkommen unbewegt, während sie immer weiter spricht. Endlich die Andeutung eines Lächelns. Sie zeigt auf sich, sagt ein paar Laute in der fremden Sprache. Dann zeigt sie auf die Frau mir gegenüber, sagt ein paar Laute, die so ähnlich klingen, nur dass sie am Ende die Stimme hebt. Einmal, zweimal wiederholt die kleine Frau die Prozedur, dann hat meine Nachbarin verstanden: Sie wiederholt den ersten Minisatz und fügt am Ende hinzu: „Anna“. Die kleine Frau lächelt, zum ersten Mal richtig. Nicht alle sind so schnell wie meine Nachbarin. Während einige noch mit dem Minidialog „Ich heiße… Wie heißt du?“ beschäftigt sind, hat die kleine Frau längst weitere Frage-und-Antwort-Sätze eingeführt. „Wie geht es dir? … Mir geht es…“ „Ich bin … Jahre alt. … Wie alt bist du?“ Das Befinden wird durch lebhaftes Mienenspiel angezeigt, das Alter durch in die Höhe gereckte Finger. Die alte Dame, die sich so mit dem Frühstück beeilt hatte, zeigt sieben Mal alle zehn Finger vor und noch ein paar extra.

Der Mann ein paar Tische weiter versteht nicht, dass auch er gerade nach seinem Alter gefragt wird und schweigt beharrlich. Die kleine Frau wiederholt die Frage, der Mann schweigt. Eine Frau gibt ihm Handzeichen, er reagiert nicht. „Dein Alter sollst du sagen“, platzt es schließlich aus ihr heraus. Warum eigentlich hat ihm das keiner von uns ruhig gesagt? Immerhin sprechen wir dieselbe Sprache, und es hat uns auch niemand verboten, sie zu benutzen. – Schnitt. Noch nicht einmal eine halbe Stunde des Seminars über interkulturelle Kommunikation in der Arbeit mit Flüchtlingen und Migranten ist vergangen und wir haben am eigenen Leib erfahren: Man wird nicht als Ausländer geboren.

… und uns anlehnen

P1120757Man muss weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir stünden fest.
Man muss den Atem anhalten,
bis der Wind nachlässt
und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,
bis das Spiel von Licht und Schatten,
von Grün und Blau
die alten Muster zeigt
und wir zu Hause sind,
wo es auch sei,
und niedersitzen können und uns anlehnen
als sei es das Grab
unserer Mutter.

Hilde Domin: Ziehende Landschaft

P1120772Die Bäume, deren Wurzeln ich auslieh, um Hilde Domins Betrachtungen über Heimat und Fremde ein Gesicht zu geben, stehen etwas außerhalb der äthiopischen Kaiserstadt Gondar in einem Garten, der von einer starken Mauer umgeben ist. Mitten darin befindet sich ein Bassin und in dem Bassin ein Wasserschloss aus dem 17. Jahrhundert: das Bad von Kaiser Fasilidas. Das Bassin ist das ganze Jahr über leer. Nur zum Timkat-Fest, dem äthiopisch-orthodoxen Fest der Taufe Jesu im Januar, wird es gefüllt. Sobald der Bischof das Wasser geweiht hat, stürzen sich Kinder von den Bäumen am Rand hinein. Manchmal, so hörte ich, würde dabei auch ein neugieriger Japaner samt Kamera mitgerissen. Und dann ist wieder Ruhe.

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