Dableibsel

Auf dem kleinen Rastplatz im Wald steht eine überdachte Rundbank. Auf der Bank ein silberfarbenes Tablett mit einer rubinroten Glaskaraffe und zwei dazu passenden Gläsern. Ein Stück entfernt ein drittes Glas, orangerot und kleingemusterter als das Trio auf dem Tablett. Die Karaffe und die Gläser sind leer und vollkommen trocken. Auf dem aufgespannten blauen Müllbeutel neben der Bank ruht ein schwarzer Filzhut. Der Hut ist von einer dünnen Staubschicht bedeckt. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Unwillkürlich beginne ich mir auszumalen, wer all die Dinge zurückließ, als er oder sie diesen Ort verließ. Ein Paar vielleicht, das auf etwas Besonderes anstoßen wollte? Er hatte den Hut abgenommen, weil ihm irgendwie feierlich zumute war. Vielleicht war ihm auch einfach nur heiß. Am spannendsten finde ich das dritte Glas ein wenig abseits. Ich stelle mir vor, dass es für eine Person aufgestellt wurde, die gar nicht anwesend war, aber doch irgendwie dazu gehörte. Aber warum blieben die Dinge zurück, wenn sie doch einen so wichtigen Moment bezeugen?

Das 18. Kamel

P1080864Ein Scheich hatte drei Söhne und 17 Kamele. Er verfügte, dass nach seinem Tod der älteste Sohn die Hälfte, der mittlere Sohn ein Drittel und der jüngste Sohn ein Neuntel seines Besitzes, also der Kamele, erhalten sollte. Nach dem Tod des Scheichs begannen die Söhne, um die Kamele zu streiten, ohne jedoch eine Lösung zu finden. Ein zweiter Scheich ritt auf seinem Kamel vorbei und bot seine Hilfe an, die die drei Brüder gerne annahmen. Der Scheich fügte sein eigenes Kamel zu den 17 Kamelen des Verstorbenen hinzu. Anschließend übergab er dem ältesten Bruder neun Kamele, dem mittleren sechs und dem jüngsten zwei und ritt sodann auf seinem Kamel davon.

Es kann hilfreich sein, ein System für Impulse von außen zu öffnen. Plötzlich entsteht Bewegung. Neue Lösungen scheinen möglich. Ich weiß nicht, von wem die Geschichte mit den Kamelen ursprünglich stammt. Der österreichische Psychotherapeut Paul Watzlawick („Anleitung zum Unglücklichsein“) soll sie gern erzählt haben um zu verdeutlichen, was in einer Therapie passiert. Mir ist das Gleichnis vor Jahren im Rahmen meiner Ausbildung zur Mediatorin zum ersten Mal begegnet und jetzt wieder beim Aufräumen. Ein Königreich für ein Kamel!

Geschichten erzählen

Jutta Reichelt: Wiederholte Verdächtigungen. Roman. Tübingen 2015

KLM_151_LAY_Reichelt.inddNeun Feststellungen und Gedanken nach der Lektüre von „Wiederholte Verdächtigungen“ in dem Bemühen, einen Einblick zu geben ohne allzuviel zu verraten von diesem „Familien- und Seelenkrimi“:

1. Ist das spannend! Ich habe schon eine Weile kein Buch mehr so atemlos gefressen.

2. Welch ein Vergnügen, wenn wirklich kein Wort überflüssig ist! Da verzeiht man glatt, dass das Vergnügen nur 182 Seiten währt.

3. Nicht immer ist das Ende der Geschichte das Problem. Auf Seite 98 finde ich den Satz: „Katharina hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, dass dieses Gespräch ihr weiterhelfen könnte, doch jetzt kommt es ihr so vor, als wenn der Frau nur eine Vergangenheit fehlte, die weiter zurückreicht.“

4. Das stellt auch Christoph fest, der verschwindet und irgendwann wieder auftaucht. Und alles gerät ins Wanken.

5. Es ist gut, wenn alte Familiengeschichten ans Licht kommen. Weiterwirken tun sie ohnehin.

6. Wieviele Häute hat eigentlich eine Zwiebel? Und wieviele Kurven eine Achterbahn?

7. Jutta Reichelt ist eine verdammt gute Beobachterin.

8. Und Romane sind doch – auch – autobiografisch. Guck mal hier und lies, was die Autorin zum Beispiel über Werder Bremen zu sagen hat. Und über das Schreiben natürlich.

9. Es geht immer darum, Geschichten zu erzählen. That is what it’s all about.

Helden der Kindheit

„Jakob, spring! Denk an Egon Eile!“ Kein Zweifel: Egon Eile wäre gesprungen. Wohin? In diesem Fall in die frühmorgendlich-kühlen Freibadfluten. Ohne mit der Wimper zu zucken. Egon Eile nämlich ist ein Held. Auf Jakob verfehlt die Aufforderung seines Bruders keineswegs ihre Wirkung.

Egon Eile ist ein Vorbild für alle Lebenslagen. Keine Schwierigkeit, die er nicht mit Bravour zu meistern verstünde. Kein Hausbrand, bei dem er nicht noch die letzten Eingeschlossenen dem sicheren Flammentod entreißen würde. Ganz groß ist Egon Eile in den kleinen Dingen des Alltags. Mathematisches Formelngewirr treibt ihn weder zu Verzweiflungs- noch zu Schweißausbrüchen. Natürlich ist er auch ein Ausbund an Höflichkeit und Hilfsbereitschaft.

Erdacht hat ihn die Mutter der Jungen. Einmal, weil sich um ihn manch schöne Geschichte ranken lässt. Zum anderen auch aus pädagogischen Erwägungen. Entliehen hat sie nur den einprägsamen Namen. Vor Jahrzehnten gab es da mal einen Klassenkameraden… als Kinder hatte man sich aus den Augen verloren.

Die Jungen werden größer, erst Teens, dann Twens. Sie gehen eigene Wege. Helden brauchen sie schon lange nicht mehr, als bei ihrer Mutter das Telefon klingelt: „Hier Egon Eile.“ Nach 40 Jahren wird der „Held“ zu Besuch kommen. Jakob und sein Bruder werden da sein. Und die Mutter hofft, dass ihr einstiger Klassenkamerad wenigstens ein klein bisschen Heldenhaftes an sich hat…

Das goldene Medaillon

„Als mein Urgroßvater meine Urgroßmutter heiratete, schenkte er ihr ein goldenes Medaillon“, erzählte mir die alte Dame. Heute, 150 Jahre und fünf Generationen später, gehört das Medaillon ihrer Enkelin. Aber nicht nur das Schmuckstück, sondern auch seine Geschichte. Das war der alten Dame fast noch wichtiger: „Ich bekam das Medaillon zur Konfirmation. Von Tante Kathrine, sagte meine Mutter nur. Tante Kathrine war die Altbäuerin auf dem Nachbarhof meiner Großeltern. Dass sie eine Halbschwester meiner Großmutter war, erfuhr ich erst lange nach ihrem Tod…“

Die alte Dame ist vor ein paar Jahren gestorben. Als sie schon ziemlich krank war, bat sie mich, ihre Familiengeschichte(n) aufzuschreiben. Wir trafen uns, wann immer es ihr gut genug ging, um zu erzählen. Wir hatten Glück: Ein paar Monate vor ihrem Tod war das Buch fertig. Sie verschenkte es freigiebig an Freunde und Verwandte. Wie hat sie es genossen, sich mit ihnen über die alten Geschichten auszutauschen!

Immer wenn ich mich an die alte Dame erinnere, denke ich, dass es ein Glück ist, Großeltern zu haben. Sie haben Dinge erlebt und Menschen gekannt, die es nicht mehr gibt. Sie haben Handgriffe und Arbeiten gelernt, die kaum noch einer beherrscht. Und das Beste ist: Sie können davon erzählen. Warum ich gerade jetzt an die alte Dame denke? Ich glaube, das hat damit zu tun, dass ich zufällig erfuhr, dass Marion, die das wunderbare Blog „FindeSatz“ betreibt, Glückskurse gibt. Und plötzlich tauschten wir uns darüber aus, ob es wohl toller ist, Biografin zu sein oder Glückskursleiterin…

Kulinarische Sehnsuchtsorte

schlaraffenlandStevan Paul: Schlaraffenland. Ein Buch über die tröstliche Wirkung von warmem Milchreis, die Kunst, ein Linsengericht zu kochen, und die Unwägbarkeiten der Liebe. Hamburg 2012

Die Geschichten von Stevan Paul kann man sich auf der Zunge zergehen lassen. Weil sie so fein beobachtet sind, so warmherzig und nachdenklich, melancholisch bisweilen, oft frech, ein wenig surreal und immer wieder einfach tröstlich. Und weil es zu jeder Geschichte das passende Rezept gibt. Denn der Autor kocht auch. Oder: Der Koch schreibt. Was für ein Glück! Herausgekommen ist ein Gedicht für Herz und Magen – und fürs Auge gleich noch dazu. Allein dieser grau schraffierte Einband, der an die dünnen Hartfaser-Frühstücksbrettchen erinnert, die es vor Jahrzehnten schon gab und jetzt wieder… wunderbar!

Dazu passen die Geschichten von Orten und Menschen, die ein wenig aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Wie der Oberkellner Adam, der seinen Beruf liebt. Wenn nur die Gäste nicht wären… Oder der alte Reto Gamper, der erst „Dienstschluss“ hat, als die Abrissbirne des Baggers gegen die Mauer des längst geschlossenen Berghotels kracht. Wie Herta Klöpke, die noch ein letztes Mal groß aufkocht, bevor die Kantine des Ost-Kaufhauses einem Schlemmerparadies mit Hummer-Stand und Champagner-Bar weichen muss. Wie der magenkranke Restaurantkritiker, der auf der Liste der Tierschützer spontan für ein weltweites Verbot von Gänsestopfleber unterschreibt, „denn er erfuhr ja allabendlich die Qualen der Gänsestopfleber-Zwangsverfütterung am eigenen Leib“. Oder der Foodblogger, der beinahe mal gewöhnliches Hackfleisch im Supermarkt eingekauft hätte, weil seine Frau außerhalb der Öffnungszeiten des Bio-Schlachters Lust auf Spaghetti Bolognese hatte. „Das ist ja ekelhaft“, findet sein allzeit ökologisch korrekter Nachbar. „Nein, Liebe. Es war Liebe, Robert.“

Ein ganz eigener Humor zieht sich durch die Erzählungen, die immer wieder überraschende Wendungen nehmen. Vieles ist nicht, was es zu sein scheint. Erinnerungen überlappen die Gegenwart und Gedanken die Taten, bis man nicht mehr sicher sagen kann, wo das eine beginnt und das andere aufhört. Die 15 Schlaraffenländer, in die die Reise führt, sind weiß Gott nicht alle märchenhaft. Und mancher kulinarische Sehnsuchtsort so unerreichbar wie das Ursprünglich-Einfache und zugleich Einzigartig-Besondere, dem die beiden Freunde auf ihrer letzten Tour im alten VW-Bus durch Italien hinterherjagen wie der Teufel der armen Seele, bevor unwiderruflich der Ernst des Lebens beginnen soll. „Unglaublich oder, zwölf ganze Trüffel. Für 100 Euro?“ – „Tri Tra Truffola“: Den Trüffelhändler und die Alten auf der Bank vor der Dorfkirche darf man sich wahrscheinlich wie das mediterrane Gegenstück zu den tiefenentspannten Nordlichtern in der Flens-Werbung vorstellen. Nein, es ist nicht alles Schlaraffenland, aber die tröstliche Wirkung von warmem Milchreis, die entfaltet sich am Ende doch.