Nicht nur für Fischköppe

Peter Schössow: Baby Dronte. München 2008

23321164zHimmel, jetzt ist es schon wieder Wochen her, dass ich Selma und Josef Schaf ausgegraben habe. Bevor sie und die anderen sutsche (norddeutsch für: langsam, gemächlich, ruhig) wieder zustauben, will ich wenigstens noch von Baby Dronte erzählen, einem meiner allerallerliebsten Bilderbücher, und das bestimmt nicht nur, weil die Geschichte im Hamburger Hafen spielt.

Jahrelang hatten Käpt’n Horatio Lüttich und seine Crew, bestehend aus Paul Zausenke, dem Smutje, und Hans-Ulrich Krittel, dem Maschinisten, „dem keiner das Schmieröl reichen  konnte“, mit der Krautsand (benannt nach der gleichnamigen Elbinsel) die großen Pötte in den Hafen gezogen, als ihr Schlepper eines Tages in einem Sturm leck schlug. 50.000 Mark soll die Reparatur kosten (das Buch wurde im vergangenen Jahrtausend zum ersten Mal aufgelegt), das gibt wenig Anlass zu Hoffnungen.

Während Käpt’n Lüttich noch über die Zukunft des Kahns und der Jungs grübelt, findet er im feuchten Elbsand ein gesprenkeltes Ei. Mitten in der Nacht schlüpft daraus ein Küken, pliert den Käpt’n an (die Duden-Definition des norddeutschen  Anplierens ist einfach genial: „jemanden mit verschleiertem Blick, blinzelnd und etwas dümmlich ansehen“) und krächzt: „Mama“.

Das Küken erweist sich als Angehöriger der seit dreihundert Jahren ausgestorben geglaubten Dronten, einem flugunfähigen Vogel aus dem Indischen Ozean. Käpt’n Lüttich, der von dem „Mama“-Gekrächze ohnehin ziemlich genervt ist, verkauft die ornithologische Rarität und lässt von dem Erlös seinen Schlepper reparieren. Aber natürlich haben er und die Jungs auch ein Herz. Schon bald vermissen sie ihr „Baby“, befreien es aus dem Zoo und nehmen auf der Krautsand Kurs Richtung Mauritius…

So ungefähr geht die Geschichte – witzig, handfest, voller Gefühl, aber kein bisschen kitschig. Und die Bilder dazu – die Krautsand im Sturm zum Beispiel und später auf der Flucht vor der Wasserschutzpolizei – sowas von klasse! Ich kann nur warnen: Wer einmal anfängt mit dem Lesen und Gucken, kommt nicht mehr von dem Buch los, egal ob Fischkopp oder nicht. Und auch egal, wie alt er oder sie ist. Ich habe mit diesem wunderbaren Buch Vierjährige ebenso erreicht wie demente alte Menschen. Irgendwie scheint sich jeder genau das daraus zu nehmen, was für ihn passt.

Looking for Fred

Ich neige nicht dazu, überall Erdmännchen zu sehen. Jedenfalls war das bisher so. Aber nachdem mir am Wochenende im Volkspark ein nur unzureichend als Hund getarnter Vertreter dieser Spezies über den Weg gelaufen war, begegnete mir nun auch noch Fred. Das heißt, eigentlich begegnete er mir gerade nicht, denn Fred ist verschollen. Verhaftet, wie ich seinem Logbuch-Eintrag vom  11. Oktober entnahm. Zuletzt wurde Fred vor ein paar Tagen im Seemannsclub Duckdalben im Hamburger Hafen gesehen. Seither ist er verschwunden. Wer Fred ist? Na, was wohl? Allerdings ist Fred kein gewöhnliches Erdmännchen, sondern eines, das zur See fährt, und das schon seit Jahren: Fred around the world. Eigentlich wollte A., die früher auch zur See gefahren ist und jetzt Wirtschaftswissen hinaus in die Welt trägt, Fred zu ihrem nächsten Einsatz nach Indonesien mitnehmen, weil sie findet, dass er zwischendurch auch mal Landurlaub braucht. Aber nun ist Fred nicht da und A. schon ganz traurig. Für sachdienliche Hinweise zu Freds Aufenthaltsort bereits an dieser Stelle herzlichen Dank!

Update am 17. Oktober:

Wie ich gerade erfahre, ist Fred wohlauf, hat aber bereits wieder auf einem Schiff angeheuert. Näheres dazu in A.(nja)s heutigem Kommentar. Aus dem Landurlaub in Indonesien wird also erstmal nichts. Auch Erdmännchen leben anscheinend im Hamsterrad… Noch einmal vielen Dank fürs Augen-offen-Halten!

Into the blue

P1030948…aber Abende gab es, die gingen in den Farben
des Allvaters, lockeren, weitwallenden,
unumstößlich in ihrem Schweigen
geströmten Blaus,
Farbe der Introvertierten,
da sammelte man sich
die Hände auf das Knie gestützt
bäuerlich, einfach
und stillem Trunk ergeben
bei den Harmonikas der Knechte –

Aus: Gottfried Benn „Fragmente“

Von Orten und Menschen verabschiedet sich in die Sommerpause – mit guten Grüßen und den besten Wünschen an alle LeserInnen und GuckerInnen!

Sehleute

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Chor der Seeleute:

Wir Fahrensleute
Lieben die See.
Die Seemannsbräute
Gelten für heute,
Sind nur für to-day.

Die Mädchen, die weinen,
Sind schwach auf den Beinen.
Was schert uns ihr Weh!
Das Weh, ach das legt sich.
Unsre Heimat bewegt sich
Und trägt uns in See,
Far-away.

Chor der Mädchen:

Wir, die Bräute
Der Fahrensleute,
Lieben und küssen,
Doch wissen, sie müssen
Zur Seefahrt zurück.

Und wenn sie ertrinken,
Dann – wissen wir – winken
Uns andre zum Glück.

Joachim Ringelnatz: Abschied der Seeleute

Hinter der Waterkant

Ein Hamburg-Besuch ohne Aufenthalt im Hafen ist möglich, aber sinnlos. Schiffe gucken, Fischbrötchen essen, unbestimmt geradeaus schauen und die Gedanken schweifen lassen: Glück kann sehr machbar sein. Aber auch hinter der Waterkant lässt es sich herrlich stromern.

P1030148Was es da zu sehen gibt? Hasen zum Beispiel. Der 30er-Jahre-Backsteinbau an den Landungsbrücken war ursprünglich ein Wohnhaus für Arbeiter vom Strom- und Hafenbau. Dann stand das Gebäude jahrelang leer, bis die Malerin Tina Oelker mit Atelier und Hasenmanufaktur einzog. 1000 Hasenbilder, das war die Idee. Jetzt nähert sich das Projekt seinem Ende, und auch die Tage des alten Hauses sind gezählt.

P1030893Die Künstlerin wird sich eine neue Bleibe suchen und neue Aufgaben. Wohin die Reise gehen wird, weiß sie noch nicht so genau, aber sie freut sich darauf. „Wahrhaftigkeit, Freiheit, Verantwortung“ hat sie erst einmal in großen Buchstaben auf die Mauern geschrieben – da, wo noch vor wenigen Tagen ein weißer Hase hoppelte.

P1030889Gleich um die Ecke geht es hinauf zu Hamburgs einzigem Weinberg, einem Geschenk des Stuttgarter Weindorfs, das jedes Jahr im Herbst in der Hansestadt zu Gast ist. An ein paar Dutzend Weinreben reifen Trauben für den Hamburger Stintfang Cuvée, der den schwäbischen Schillerweinen nachempfunden sein soll – leicht und trocken, säurebetont und wegen der meernahen Lage auch etwas würzig.

P1030890Der Wein ist eine solche Rarität, dass nur Ehrengäste der Stadt in seinen Genuss kommen. Alle anderen müssen sich mit nahen Blicken auf die Trauben und weiten über den Hafen begnügen. Das ist auch toll.

P1030108Wer in Hanglage weiter Richtung St. Michaelis spaziert, muss schon bald auf den Elbblick verzichten. Dafür ist es dort herrlich schattig – eine Wohltat bei den tropischen Temperaturen dieses Sommers. Und zumindest Großwüchsige finden auch die passende Sitzgelegenheit zum Verweilen.

P1030900Weil ich keine Lust zum Beineschlenkern habe, steige ich wieder ab zum Portugiesenviertel. Auf einen Café Galão und eines dieser Cremetörtchen mit Suchtpotenzial. Und anschließend auf einen kleinen Völkerverständigungsstreifzug. Bei Heidi und Renato scheint mir die Sache einigermaßen klar zu sein.

P1030911Aber ist der Blick der Balkonbewohner nun weltwärts gerichtet, wie die Wimpel vermuten lassen, oder prallt er gegen die grüne Absperrung dahinter?

P1030125Den weitesten Weg hat jedenfalls der Vulkanstein von der Osterinsel hinter sich, aus dem einheimische Künstler einen Moai namens „Angelito“ gefertigt haben. Das „Engelchen“ lässt sogar den Michel ziemlich klein aussehen.

Noch mehr Schaufenster

P1030146Ein Mädchen mit Augen so blau und einem Ausschnitt so tief wie das Meer. Mein Kind, sei nicht trrraurig, tut der Abschied auch weh. Tauwerk und Ölzeug für die Reise durch Wellen und Sturm. Auf, Matrrrosen, ohe! Anker, Steuerräder, Fahnen und Seebären: Das alles erwartet man bei einem (Schaufenster-)Bummel am Hafen zu sehen. Was aber macht das Reh zwischen Kiez-Küche, Heimatschmökern und anderen maritimen Hamburgensien?

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Ausreis(s)er und Häfen

P1020212„Dascha gediegen!“ würde der Hamburger sagen. (Für Nicht-Norddeutsche und Menschen, die das Ohnsorg-Theater nicht mal aus dem Fernsehen kennen: Das bedeutet soviel wie „Sachen gibt’s!“) REIS(S) AUS! fordert eine Agentur für neue Reiseerfahrungen Spaziergänger an der Außenalster auf. Nur zwei Autolängen weiter parkt der Heimat-Hafen-Hamburg. Bloß nicht übermütig werden!

P1020215Zwischen den Polen ein Kommen und Gehen: Das leuchtend-grüne Geschoss, das neulich direkt hinter dem Ausreis(s)er-Bus Stellung bezog, war zur abschüssigen Straße hin mit sicher nicht wenig Aufwand aufgebockt worden, als beabsichtigten seine Besitzer, in Hamburg zu übersommern.

P1020256Doch weit gefehlt! Anderntags war es bereits wieder dem Ruf in irgendeine Ferne gefolgt. Dafür erfreute auf der gegenüberliegenden Alsterseite die rollende Villa Pusteblume das Auge der Passanten.

P1020274Auch sie ist längst wieder fort… Zeit für eine Solidaritätsadresse, mag man sich im Hafen gedacht haben. ZUHAUSE in Hamburg liest dort wie eine mahnende Erinnerung, wer von den Landungsbrücken aus über die Elbe schaut. Fernweh braucht man an einem Fluss Richtung Meer ja nicht extra zu wecken.

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Wir nennen es Heimat

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Vor ein paar Tagen las ich in der Zeitung, dass Hamburgs schrägste Kneipe weiterhin ums Überleben kämpft. Orkantief Xaver und die Sturmfluten in seinem Gefolge hatten die ehemalige Kaffeeklappe unter der Oberhafenbrücke Anfang Dezember bis zu den Fenstern im Erdgeschoss unter Wasser gesetzt und das Mauerwerk stark beschädigt. Das Gebäude wurde zwar inzwischen entkernt, aber die Überprüfung der Standfestigkeit steht noch aus. Das alles geschieht nicht zum ersten Mal. Und das macht beim Daumendrücken für die baldige Wiedereröffnung dieses ganz speziellen Orts in der heutigen HafenCity auch irgendwie Hoffnung. Wie heißt es so schön: Totgesagte leben länger.

P1040871Die Oberhafen-Kantine wurde 1925 als sogenannte Kaffeeklappe gebaut. So bezeichnete man seit Mitte des 19. Jahrhunderts einfache Speiselokale, in denen keine alkoholischen Getränke ausgeschenkt wurden. Um den seinerzeit offenbar übermäßigen Schnapskonsum unter der arbeitenden Bevölkerung zu bekämpfen, wurde neben deftiger Hausmannskost vor allem Kaffee von der Küche durch eine Klappe direkt in den Gastraum gereicht, daher der Name. Im Hamburger Hafen gab es mal zwanzig solcher Lokale. Inzwischen ist nur noch die Oberhafen-Kantine übrig, ein Häuschen im schönsten Backsteinexpressionismus mit einer Grundfläche von nicht einmal 25 Quadratmetern und einem turmartigen Staffelgeschoss, das ursprünglich als Lagerraum diente. Unmittelbar darüber rauschen Regional- und Fernbahnen von und nach dem nahen Hauptbahnhof.

P1040888Da das Gebäude direkt an der Kaikante des Oberhafens steht, wurde es von Gezeiten und Sturmfluten unterspült, sackte ab und wurde mit der Zeit immer schiefer. So scheef, as den Schipper sin Been, wie es in dem Song vom Hamburger Veermaster heißt. Da fällt man im Wortsinn mit der Tür ins Haus. Oder war es umgekehrt: nach dem Besuch hinaus auf die Straße? Suppe und Getränke haben jedenfalls ordentlich Schlagseite in den Tellern und Gläsern der Oberhafen-Kantine. Irgendjemand hat einmal einen Neigungswinkel von 8,7 Grad gemessen. Sensibleren Gästen kreiselt es vor allem auf dem Oberdeck schon mal in Kopf und Magen, auch ohne das winzigste Promillchen Alkohol im Blut. Der gehört natürlich längst zum Repertoire des traditionsreichen Ausschanks.

P1040884Ach, könnten die alten Mauern erzählen, was sie im Laufe der Jahre alles gesehen haben… Als Erstes würden sie sicher von Anita Haendel sprechen. Anita war die Tochter von Hermann Sparr, der die Oberhafen-Kantine 1925 bauen ließ. Er nahm die damals 12-Jährige von der Schule, damit sie in der Küche half. Daraus wurden 72 Jahre, in denen der Betrieb nicht ein einziges Mal unterbrochen war. Bis zum Schluss stand Anita selbst in der Küche. In einer Reportage in der Hamburger Morgenpost offenbarte die Seele der Oberhafen-Kantine 1996 ihr Selbstverständnis: „Seit 70 Jahren wissen die Ladearbeiter, dass es hier morgens um fünf frischen Kaffee gibt und Frikadellen und auch ein’n Lütten fürs Ende der Nachtschicht. Und was 70 Jahre läuft, muss auch das 71. hinhauen.“ 1997, einen Tag vor ihrem 84. Geburtstag, starb Anita Haendel. Das ist geradezu biblisch: Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.

Nach Anita Haendels Tod stand die Kantine leer, musste schon bald wegen Einsturzgefahr geschlossen werden. Jahre später wurde das Haus renoviert und an den Fernseh-Koch Tim Mälzer und seine Mutter Christa verpachtet, die den Imbiss 2006 mit traditioneller Hausmannskost wieder eröffnete. Nachdem eine Sturmflut das Gebäude nur eineinhalb Jahre später erneut erheblich beschädigt hatte und es abermals saniert werden musste, beschlossen die Mälzers, das Lokal aufzugeben.

P1040883Vor ein paar Wochen stand der Oberhafen-Kantine das Wasser wieder einmal bis zum Hals, aber die jetzigen Betreiber wollen kämpfen. Das Inventar immerhin konnten sie retten. Und sie haben ein provisorisches Quartier im Kontorhaus am Brandshofer Deich eröffnet, wo sie sich und die alte Kaffeeklappe mit verschiedenen Sonderveranstaltungen über Wasser zu halten versuchen, bis sie – hoffentlich – im Frühjahr an den Oberhafen zurückkehren können.

Ich glaube, das wird klappen. Um den Spruch mit den Totgesagten Mantra-artig noch einmal auf Englisch zu murmeln – immerhin hat die Institution Kaffeeklappe ihren Ursprung in London: There’s life in the old dog yet. Auf der Website der Oberhafen-Kantine lese ich denselben Gedanken in ein paar mehr Worten: „Das Häuschen blieb stehen und steht da immer noch: schief, aber aufrecht. Das ist ein bisschen überraschend. Von mehr als 20 Kaffeeklappen, die es einst im Hamburger Hafen gab, ist es die letzte. Schwein gehabt. Offenbar stand diese keinem Wirtschaftspolitiker oder Investor im Weg, die sich mit einem Häuschen, in dem seit 1925 Kaffee und Frikadellen serviert werden, erfahrungsgemäß nicht lange aufhalten. Und so werden hier immer noch Kaffee und Frikadellen serviert. Das ist eigentlich keine große Sache und trotzdem irgendwie tröstlich. Ein schönes Gefühl. Wir nennen es: Heimat.“

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