Fiktive Welten

„Was ist eigentlich Fiktion?“, wollte S. wissen. S. kam vor wenigen Jahren aus Afghanistan nach Hamburg und spricht inzwischen bemerkenswert gut Deutsch.

In der Gesprächsgruppe für MigrantInnen und Flüchtlinge hatten wir gerade lange über die Bedeutung von zwei Sätzen nachgedacht. Der eine stammt von dem amerikanischen Automobilproduzenten Henry Ford: „Ob du denkst, du kannst es, oder du kannst es nicht: Du wirst auf jeden Fall Recht behalten.“ Der Verfasser des anderen ist (mir) nicht bekannt: „Nicht weil es zu schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es zu schwer.“ Das Gespräch war lebhaft gewesen und wir hatten einige Beispiele zusammengetragen, wie unser Denken unser Handeln bestimmt und wie toll es sich anfühlt, wenn man seine Angst besiegt hat.

Jetzt also wollte S. wissen: „Was ist eigentlich Fiktion?“ Super, dachte ich, nach der Philosophiestunde gleich noch eine Runde Literatur! Ich hielt einen Mini-Vortrag, den man unter die Überschrift „Dichtung und Wahrheit“ stellen könnte und in dem die Worte „ausgedacht“ und „wirklich passiert“ tragende Rollen spielten. S.’ Gesichtsausdruck wurde immer skeptischer. Am Ende zog er ein Stück Papier mit einem Stempel darauf aus der Tasche. „Fiktionsbescheinigung“ stand ganz oben. Was für ein feiner Kandidat für eine Fortschreibung von Mark Twains Sammlung über „Die Schrecken der deutschen Sprache“! Das Papier, sagte S., müsse er wie einen Pass vorzeigen. Was eine Bescheinigung ist, weiß er natürlich. Und ich weiß spätestens jetzt, dass Theorien, die Fiktion im Gegensatz zu Wahrheit und/oder Realität verorten, gelegentlich selbst eine Fiktion sind.

P.S. Eine so genannte „Fiktionsbescheinigung“ ist ein Titel aus dem Aufenthaltsrecht. Sie wird von der Ausländerbehörde benutzt, um die Zeit zu überbrücken, in der die Behörde nicht über einen Antrag z.B. auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis entscheiden kann oder will. Die eigentlich abgelaufene Erlaubnis gilt dann bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde weiter.