Gesichter von Sarau

Das erste Mal war mir der Ortsname Sarau am anderen Ende der Welt begegnet. Ich recherchierte für ein Buch über deutsche Auswanderer in Neuseeland („I did it my way“, Berlin 2012). An einem stürmisch-regnerischen Tag machte ich mich auf den Weg in die Moutere Hills nordwestlich der Stadt Nelson, wo sich einst die ersten deutschen Siedler niedergelassen hatten. Mein Ziel war das um 1850 gegründete Dorf Upper Moutere, das noch bis 1917 Sarau hieß, wie eine Gemeinde im Kreis Herzogtum-Lauenburg in Schleswig-Holstein.

Nachdem Neuseeland 1840 durch den Vertrag von Waitangi zur britischen Kronkolonie geworden war, gelang es der New Zealand Company und ihren Agenten, mehr britische und erstmals auch deutsche Auswanderer dazu zu bewegen, die weite Reise ins Ungewisse anzutreten. Die ersten 140 Siedler stachen Ende 1842 auf der „St. Pauli“ von Hamburg aus in See. Mit an Bord waren auch vier Missionare der Norddeutschen Missions-Gesellschaft, die die christliche Botschaft zu den Maori bringen wollten.

Im Juni 1843 erreichte die „St. Pauli“ den Hafen von Nelson in der Tasman Bay im Norden der neuseeländischen Südinsel. Falls die Reisenden eine Art Gelobtes Land erwartet haben sollten, wurden sie schnell enttäuscht: Nur wenige Tage nach ihrer Ankunft kam es am Wairau River südöstlich von Nelson zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen britischen Siedlern der New Zealand Company und Maori, die sich ihr Land partout nicht wegnehmen lassen wollten. 26 Menschen kamen dabei ums Leben. Und die Geistlichen stellten schon bald fest, dass es in Nelson und Umgebung gar nicht so viele zu missionierende Maori gab beziehungsweise sich diese bereits unter englischer geistiger Obhut befanden.

Allen Widrigkeiten zum Trotz schafften die Neuankömmlinge das landwirtschaftliche Gerät, das sie aus der Heimat mitgebracht hatten, auf den Grund und Boden, den sie der New Zealand Company abgekauft hatten. In einem Tal in den Moutere Hills gründeten sie St. Paulidorf, die erste deutsche Siedlung in Neuseeland. Lange hielten es die Auswanderer allerdings nicht dort aus, weil das Land immer wieder überflutet wurde. Viele machten sich in andere Gegenden Neuseelands oder gleich nach Australien auf, um dort ihr Glück zu suchen. Andere siedelten sich an trockeneren Orten in der Umgebung an. Heute heißt der Flecken Land, der einmal St. Paulidorf war, Harakeke. Das ist das Maori-Wort für den neuseeländischen Flachs, den man überall im Land, aber vor allem in niedrig gelegenen sumpfigen Gebieten antrifft.

Im Herbst 1844 erreichte der dänische Großsegler „Skjold“, der extra für die Beförderung von Emigranten gebaut worden war, den Hafen von Nelson. An Bord: eine zweite Gruppe von Siedlern aus dem mecklenburgischen Klütz. Die Überfahrt hatte Graf Kuno zu Rantzau-Breitenburg finanziert, der an Siedlungsprojekten in Neuseeland als Investitionsvorhaben interessiert war. Ihm zu Ehren nannten die Auswanderer ihre Ansiedlung ein paar Kilometer südwestlich von Nelson in der fruchtbaren Waimea Ebene Ranzau. Noch heute führt die Ranzau Road durch Hope, wie das kleine Örtchen inzwischen heißt. Auch einige der Auswanderer, die auf der „St. Pauli“ nach Neuseeland gekommen waren, ließen sich dort nieder und bauten Getreide, Obst, Hopfen und Tabak an.

Pastor Johann Wilhelm Christof Heine, der einzige in Nelson verbliebene der vier norddeutschen Missionare, lebte mit seiner Frau Anna ebenfalls ein paar Jahre in Ranzau und kümmerte sich um die Seelen der Neubürger. Den Plan, die Maori der Gegend zu missionieren, hatte er längst aufgegeben. Ihre endgültige Heimat fanden die Heines schließlich in der neuen Auswanderersiedlung Sarau, nur wenige Kilometer südlich des alten St. Paulidorf in den Moutere Hills. Pastor Heines Schwiegervater hatte in Sarau bereits ein Haus gebaut, in dem er 1857 auch den „Moutere Inn“ eröffnete, der noch heute damit wirbt, der älteste Pub Neuseelands zu sein, jedenfalls der älteste im Originalgebäude betriebene.

In Upper Moutere, dem früheren Sarau, stach mir sofort die schöne Holzkirche an der Kreuzung Main Road / Supplejack Valley Road ins Auge. 1865 hatte Pastor Heine St. Paul’s, die erste lutherische Kirche am Ort, eingeweiht. Das alte vom Holzwurm befallene Gebäude wurde 1905 durch den heutigen Bau ersetzt. Rund um die Kirche erstreckt sich der Friedhof. „In loving memory“ lese ich auf einem der Grabsteine. Und gleich daneben: „Hier ruhet in Gott“.

Während ich an den Gräbern entlang schlendere und mir das Leben in Sarau vor 150 Jahren vorzustellen versuche, fällt mein Blick auf eine dünne ältere Frau ganz in Schwarz, die sich in der Nähe der Kirche zu schaffen macht. Ich frage sie nach dem Grab von Pastor Heine. Sie will wissen, wer da fragt. Wir sprechen über Auswanderer in den alten und neuen Zeiten, als Margaret plötzlich auf ein steinernes Kreuz ganz in unserer Nähe zeigt. „Er war mein Urgroßvater“, sagt sie: Pastor J.W.C. Heine, geboren am 18. Mai 1814, gestorben am 18. März 1900. Die alte Frau holt geschwind eine Wurzelbürste aus dem Altarraum der Kirche und rückt damit dem Moos auf dem Grabstein von Uropa Johann und Uroma Anna zu Leibe, damit auf den Fotos auch etwas zu erkennen ist. Für einen Moment scheint das alte Sarau ganz nahe zu sein.

Der Ort ist überschaubar. Neben der Kirche und dem ältesten Pub Neuseelands gibt es in Upper Moutere noch einen General Store, eine Mischung aus Laden und Café. Außerdem: eine Tankstelle, einen Fish-and-Chips-Shop, ein paar (Kunst-)Handwerker sowie Winzer, darunter die Weinkeller von Neudorf und Himmelsfeld. Was man zum Leben so braucht. Und die Schule direkt gegenüber der Kirche natürlich, deren Geschichte ebenfalls bis in die 50er Jahre des 19. Jahrhunderts zurückreicht. Überschaubar ist der Ort und doch habe ich ihn belebter in Erinnerung als das namensgebende Sarau im Kreis Herzogtum-Lauenburg in Schleswig-Holstein, dem ich auf einer Fahrradtour um den Ratzeburger See jetzt endlich auch einmal einen Besuch abgestattet habe.

Sehr still war dieses Sarau, eigentlich: Groß Sarau, ganz im Norden des Sees. Ein paar landwirtschaftliche Gebäude. Die „Alte Meierei“, inzwischen ein Dorfladen, der aber gerade Betriebsferien hatte. Eine Taverne am See, offenbar für länger geschlossen. Der Dorfkrug, der auch erst später am Tag öffnen würde. Feuerwehrgerätehaus und Gemeindebüro, ebenfalls zu. Ein paar Häuser neueren Datums, vielleicht Ferienhäuser. Keine „Margaret“ weit und breit, leider. Die Tankstelle an der Hauptstraße immerhin hatte geöffnet. Auf dem Steg am See verzehrte ich ein Eis, das ich im Shop der Tankstelle gekauft hatte.

Jogging in the rain

P1000638… mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen:

It rained and rained and rained
The average fall was well maintained
And when the tracks were sloppy bogs
It started raining cats and dogs.
After a drought of half an hour
We had a most refreshing shower
And then, most curious of all
A gentle rain began to fall.
Next day but one was fairly dry
Save for one deluge from the sky
Which wetted the party to the skin
And then at last – the rain set in.

P1000641 (2)

Das „Regenlied“ fand ich vor Jahren im Gästebuch eines neuseeländischen backpackers. Wir hatten gerade eine mehrtägige Wanderung auf halber Strecke abgebrochen, nachdem eine Sintflut von oben die Wege in sloppy bogs verwandelt hatte. In diesen feuchten Maitagen denke ich oft an unsere Rutschpartie am anderen Ende der Welt und daran, wie der Regenwald immer näher rückte, während wir auf der überdachten Veranda der Herberge hockten und Tag um Tag vergeblich auf Sonne warteten. Sehr viel anders sieht es auch nicht aus, wenn ich heute von meinem Balkon in die tropfnassen Bäume blicke: ein Gefühl wie Hundert Jahre Einsamkeit.

Träume der anderen

Kann ein Mensch für einen anderen, der dazu selbst nicht mehr in der Lage ist, dessen großen Traum verwirklichen? Und was bedeutet das? Für den ursprünglichen Träumer, für den Übernehmer, aber auch für den Traum selbst?

Diese Fragen beschäftigen mich, seit ich vor ein paar Tagen im Fernsehen das großartige taiwanesisch-chinesische Roadmovie „One Mile Above“ sah. Nach dem Tod seines älteren Bruders Shu-Wei unternimmt der frischgebackene taiwanesische Uni-Absolvent Shu-Hao eine Reise, die Shu-Wei geplant, aber nie realisiert hat: mit dem Rad auf dem Sichuan-Tibet-Highway quer durch den Himalaya bis nach Lhasa. Gebannt folge ich den atemberaubenden Bildern dieses Höhen- und Höllentrips, der Shu-Hao körperlich, geistig und seelisch bis an die äußerste Grenze seiner Kräfte fordert. Am Ende tanzt er vor dem Potala-Palast. „Jetzt kannst du in Frieden ruhen“, sagt er zu seinem toten Bruder.

Das hatte ich doch schon einmal gehört! 14 Jahre ist das jetzt her. Wir waren mit Kajaks im Doubtful Sound unterwegs, einem der schönsten Fjorde Neuseelands. Sechs NeuseeländerInnen, ein Amerikaner, ein Japaner und ich. Ito, der Japaner, teilte das Boot mit Justine. Sein Glück, denn Justine war eine sehr erfahrene und dazu äußerst gutmütige Paddlerin und brachte das Kajak gegen Wind und Wellen notfalls auch allein ans Ufer, wenn Ito wieder einmal nur dasaß und unbestimmt in die Ferne schaute. Ich erinnere mich, dass ich mich fragte, was ihn wohl zu dieser Reise bewogen hatte. Oder was es mit dem Feuer auf sich hatte, das er eines Abends allein am Strand entzündete. Ito zu fragen traute ich mich nicht. Ganz am Ende der Tour erfuhren wir, dass seine Freundin, eine begeisterte Kajakfahrerin, die irgendwo in japanischen Gewässern zusammen mit ihrem Guide ums Leben gekommen war, davon geträumt hatte, einmal im Doubtful Sound zu paddeln. Am Strand hatte Ito ein Foto der Freundin verbrannt. „Jetzt ist sie glücklich“, sagte er, „jetzt ist sie angekommen.“

Ja, vielleicht war die tote Freundin jetzt angekommen, vielleicht kann der tote Bruder in Frieden ruhen. Aber mehr noch scheinen mir diese beiden Reisen eine wunderbare Möglichkeit zu sein, von dem geliebten Menschen Abschied zu nehmen und selbst Frieden zu finden. Der Traum ist, soweit ich das beurteilen kann, in beiden Fällen der Traum des Toten geblieben.

doubtful sound 1 001„It was one of those days so clear, so still, so silent you almost feel the earth itself has stopped in astonishment at its own beauty.“ (Katherine Mansfield)

Safety Old School Style

Die Sicherheitsvideos von Air New Zealand sind Kult. Als ich 2011 ans andere Ende der Welt flog, machten uns Spieler der All Blacks mit den Sicherheitsvorschriften an Bord vertraut – leider nur virtuell. Immerhin gewann das neuseeländische Team im selben Jahr die Rugby-Weltmeisterschaft im eigenen Land. Ein Jahr später, in Vorfreude auf den ersten Teil von Peter Jacksons Hobbit-Trilogie, steuerte die Airline filmisch direkt nach Mittelerde, Gastauftritte von Regisseur und Gollum inklusive. Schon seit Jacksons Verfilmung des Herrn der Ringe erwarten ja viele Neuseeland-Reisende insgeheim, unterwegs auf Frodo und seine Gefährten zu treffen.

In dem neuen Video Safety Old School Style gibt jetzt die aus der Sitcom Golden Girls bekannte Schauspielerin Betty White zusammen mit anderen Bewohnern eines fiktiven Altenheims die Safety Instructions an die Fluggäste weiter. Naturgemäß etwas amerikanischer als die Vorgänger, aber immer noch sehr vergnüglich. Und bei aller Flughöhe angenehm down to earth. Passend dazu fällt im Land der Kiwis auch der Abschied besonders freundlich aus, wie hier auf dem Flughafen von Auckland:

IMG_0457

Süßes Fernweh

IMG_7189Heute bin ich nur halb in Hamburg. Die andere Hälfte traumwandel(r)t durch eine grandiose Vulkanlandschaft am anderen Ende der Welt. Im Tongariro Nationalpark im Zentrum der neuseeländischen Nordinsel, um genau zu sein. Mount Ngauruhoe, der Schicksalsberg aus Peter Jacksons Trilogie „Der Herr der Ringe“, ruft – seit ich gelesen habe, dass der Tongariro Crossing vor ein paar Tagen wieder komplett geöffnet wurde. Die knapp 20 Kilometer lange Bergtour wird zu den schönsten Tageswanderungen der Welt gezählt. Die beliebteste in Neuseeland ist sie allemal: Mehr als 70.000 Wanderer zieht es jedes Jahr auf den Track, dessen nördlicher Teil nach Ausbrüchen am Te Maari Krater des Mount Tongariro im August und November 2012 geschlossen werden musste. Inzwischen hat sich die vulkanische Aktivität beruhigt. Wissenschaftler bestätigten, dass das Gebiet wieder sicher sei. So sicher, wie Vulkane eben sein können.IMG_7219

Ich habe den Tongariro Crossing im Februar 2011 gemacht, zwischen Interview und Interview für ein Buchprojekt über deutsche Auswanderer in Neuseeland, weil endlich einmal das Wetter stimmte, als ich in die Gegend kam. Bin sieben Stunden praktisch ununterbrochen gewandert, oft gekraxelt, manchmal über Geröll gerutscht, habe mich einmal sogar gepflegt auf die Nase gelegt, als die Kräfte nachließen. Ja, die Tour war anspruchsvoll, aber auch zum Weinen schön. Ich habe gigantische Mondlandschaften-Krater durchmessen, mit Schaudern in den Schlund des aktiven Red Crater geblickt und auf die smaragdgrünen Emerald Lakes mit ihren schwefeligen Ufern. Und dazwischen immer wieder freie Sicht auf den Schicksalsberg genossen.