Ozeane ohne Licht

Aus tausend Quellen quillt die Nacht
Und übernimmt den Himmel unsrer Träume.
Da ist ein Licht noch – dort noch Bäume,
Dann nichts mehr. Sintflut. Nur noch Nacht.

Aus Ozeanen ohne Licht erheben sich Gedanken,
Wie Meerestiere schwimmen unsre Träume
Mit schweren Flossen durch die Finsternis der Räume
Und kreisen um die Hoffnungsschiffe, die versanken.

Guido Zernatto (1903 – 1943), österreichischer Schriftsteller und Politiker

Das Foto zeigt die Installation „Unmündig“ des 1986 in Georgien geborenen Künstlers Vasil Bereda, die auf der NordArt 2021 im schleswig-holsteinischen Büdelsdorf zu sehen war. „… die Füße einer wehrlosen jungen Frau, kahlrasiert wie eine Gefangene, in ein großes Tuch gehüllt, das Schutz und Zwangsjacke zugleich ist, (stecken) wie zur Reinigung in einer Schüssel. Zwölf weitere Schüsseln stehen um sie herum. Die Assoziation mit der Fußwaschung der Jünger Jesu erscheint so gut wie unausweichlich…“, ist auf der Website der internationalen Kunstausstellung über die Installation zu lesen.

Zwiegespräche

Doctor Schein und Doctor Sinn
gingen ins Café;
Schein bestellte Doppel-Gin,
Sinn bestellte Tee.

Seitlich von dem Plauderzweck
Nahmen sie dabei:
Schein – verlognes Schaumgebäck;
Sinn – verlornes Ei.

Dialog ward Zaubertext,
Nekromantenspiel;
Zwieseits wurde hingehext,
Was dem Geist gefiel,

Was dem Sinn Erscheinung schien,
Was der Schein ersann.
Schein gab Sinn, und dieser ihn,
Und die Zeit verrann.

Und die Stunde kam herein
Leis’ des Dämmerlichts.
Schein verging zu Lampenschein
Sinn verging zu Nichts.

Ferdinand Hardekopf (1876-1954): Zwiegespräch

Ferdinand Hardekopfs wundervolles „Zwiegespräch“ fand ich in dem leider nur noch antiquarisch erhältlichen schmalen Band „Wir Gespenster“, das der Arche-Verlag 2004 zum 50. Todestag des expressionistischen Dichters herausbrachte. Ich habe mir erlaubt, die Begegnung von Doctor Schein und Doctor Sinn vom Café in die Carlshütte im schleswig-holsteinischen Büdelsdorf zu verlegen. In der alten Eisengießerei und draußen im Park lädt noch bis zum 10. Oktober die diesjährige NordArt zum phantasievollen Zwiegespräch mit allerlei zeitgenössischer Kunst, in dem gelegentlich ebenfalls die engen Grenzen von Schein und Sinn zerfließen. Anfassen (meistens) erlaubt.

Ansichtssache

Was ist das denn? Ein Baum? Ein Vogel Strauß, der in turbulenten Zeiten Halt auf vier Beinen sucht?

Schau mal, jetzt kriecht ihm auch noch einer in den Allerwertesten!

Meint womöglich, das sei der Weg ins Himmelreich.

Was sagst du? Die Beine sind Menschen? Und auf ihren Köpfen balancieren sie ein riesiges Herz? Wär ja zu schön…

„Man is not an abundance of the earth“, sagt der Künstler. Der Mongole Ochirbold Ayurzana hatte übrigens weder ein Herz noch einen Vogel im Sinn, sondern eine riesige Wolke an Informationen, die unsere globalisierten Köpfe flutet und unser Bewusstsein verändert. Offen bleibt, ob „abundance“ besser mit „Überfluss“ oder mit „Reichtum“ zu übersetzen ist. Wer sich selbst ein Bild machen will: Die Arbeit aus Stahldraht ist noch bis zum 8. Oktober auf der NordArt im schleswig-holsteinischen Büdelsdorf zu sehen.

Dialog mit dem Raum

Eines der vielen hundert Kunstwerke, die auf der diesjährigen NordArt im schleswig-holsteinischen Büdelsdorf zu sehen sind, habe ich euch hier schon vorgestellt. Aber das größte Kunstwerk von allen ist nicht das eine Bild, die eine Skulptur oder Installation, sondern das einzigartige Zusammenspiel von Exponaten und Ausstellungsräumen.

Die Kulisse bildet die ehemalige Eisengießerei der Carlshütte, 1827 gegründet und 1997 stillgelegt. Bespielt wird das, was von dem ersten Industrieunternehmen der Herzogtümer Schleswig und Holstein blieb, Sommer für Sommer von ausgewählten Künstlern aus aller Welt.

Dabei entsteht ein Dialog ganz eigener Art, ein Mit- und manchmal auch ein Gegeneinander, das die Besucher beschenkt und zugleich fordert.

Mit jedem Schritt verändern sich Stand-Punkte.

Jede Drehung des Kopfes eröffnet neue Blick-Winkel.

NordArt 2017: Noch bis zum 8. Oktober.

Auf den zweiten Blick

Es ist nicht wichtig, was du betrachtest, sondern was du siehst.

Henry David Thoreau

Du stehst in einer Halle. Durch Reihen von Deckenfenstern fällt Licht. Zwischen zwei Fensterreihen hängt ein graues Gebilde bis auf Bauchhöhe herab. Im Näherkommen erkennst du, dass das Gebilde Löcher hat. Eine Frau mit leuchtend orangen Haaren schaut hinein. Oder schaut sie hindurch? Was sieht sie?

Sieht sie die Reihen quadratischer Bilder, deren gelbe Flecken mit der Jacke der Frau harmonieren, die für einen Moment in der Maueröffnung verharrt?

Schon ist die gelbe Jacke fort, die Maueröffnung nicht mehr als ein quergestreifter Schemen. Ein Mann in Ausstellungsschwarz blickt, die Hände in den Taschen, auf die quadratischen Bilder, deren Farbtupfer durch das Lochwerk rund erscheinen. Der linke Fuß des Mannes ist leicht erhoben, gleich wird er weitergehen.

Im Zurücktreten gleiten deine Finger über die löchrige Struktur. Der schwere metallene Tropfen antwortet mit einem sachten Schwingen, kaum mehr als ein Hauch. Vielleicht staunst du, wieviel Tiefe gerade durch die große Öffnung entsteht, die dich vage an reppelnde Maschen in einer alten Strickjacke erinnert.

Die Frau mit den Feuerhaaren ist immer noch in der Nähe. Du könntest sie fragen, ob du sie durch all die Löcher betrachten darfst. Und wenn du Glück hast, schenkt sie dir ein Lächeln dazu.

Bestimmt willst du nun auch wissen, was du siehst, wenn du einfach mal von der anderen Seite durch die Löcher schaust…

Das graue Gebilde aus geflammtem Edelstahl heißt „Dark Matter“ und stammt von dem südkoreanischen Künstler Jang Yongsun. Du findest es auf der NordArt 2017 im schleswig-holsteinischen Büdelsdorf. Ein bisschen beeilen musst du dich allerdings: Die phantastische Ausstellung im Kunstwerk Carlshütte, einer ehemaligen Eisengießerei, schließt am 8. Oktober ihre Pforten – bis zum nächsten Sommer.