Mit wehendem Haar

Wenn einer fortgeht, muss er den Hut
mit den Muscheln, die er sommerüber
gesammelt hat, ins Meer werfen
und fahren mit wehendem Haar,

er muss den Tisch, den er seiner Liebe
deckte, ins Meer stürzen,
er muss den Rest des Weins,
der im Glas blieb, ins Meer schütten,

er muss den Fischen sein Brot geben
und einen Tropfen Blut ins Meer mischen,
er muss sein Messer gut in die Wellen treiben
und seinen Schuh versenken,
Herz, Anker und Kreuz,
und fahren mit wehendem Haar!

Dann wird er wiederkommen.
Wann?
Frag nicht.

Ingeborg Bachmann: Lieder von einer Insel

Es war ein Tag, an dem die Jahreszeiten miteinander rangen. Im frischen Morgenwind umflügelten Schwäne zart den eigenen Kopf. Nixen räkelten den smaragdgrünen Leib auf nieselfeuchten Steinen, die mählich in der Sonne trockneten. Weit ging der Blick hinaus aufs Meer und zugleich tief ins Innere. Die alte Eule lächelte wissend.

Vom Finden

„… und nichts zu suchen, das war mein Sinn…“, als ich für ein paar Tage an die Ostsee fuhr. Es sind bisweilen dies die Momente, die die schönsten Geschenke bereithalten.

Weite und Wellenrauschen.

Blüten im Sand.

Gefallene Engel.

Ostseejade und Hühnergötter.

Neue Wege.

Himmlische Dramen.

Lustvolles Spiel.

Und immer: Weite und Wellenrauschen.

Einer geht noch!

In der Lübecker Bucht sprangen die Strandampeln auf der Internetseite strandticker.de reihenweise auf Rot. In einigen Badeorten mussten schon am Freitag Zugänge an die Ostsee wegen Überfüllung gesperrt werden. Zeitweilig ging nichts mehr an diesem knallheißen Wochenende in Timmendorfer Strand, Scharbeutz & Co. Warum nur, frage ich mich nicht zum ersten Mal, wollen die Menschen eigentlich immer genau dort hin, wo alle anderen auch hin wollen bzw. schon sind?

Wo es doch so wunderbare Alternativen gibt. Die vielen Seen im Herzogtum Lauenburg im Südosten von Schleswig-Holstein zum Beispiel. In der eiszeitlich geformten Hügellandschaft konnten sich Flora und Fauna im Schatten der innerdeutschen Grenze nahezu ungestört entwickeln.

So ein bisschen unter dem Radar geblieben ist die Gegend bis heute. Auch ich hatte fast vergessen, wie schön es dort ist – bis mich Stefanie mit einem Beitrag auf ihrem Blog „In der Nähe bleiben“ daran erinnerte. Danke Stefanie! In aller Ruhe lässt es sich in der Region wandern, baden oder einfach nur sein – selbst an einem Hochsommerwochenende im August.

Ich habe vom Waldparkplatz an der Nordseite des Schmalsees, also praktisch von der Eulenspiegel-Stadt Mölln aus eine große Runde um Schmalsee, Lütauer See, Drüsensee und das Hellbachtal mit Krebssee, Lottsee und Schwarzsee gedreht. Einer geht noch, dachte ich ein ums andere Mal, zumal die Bäume reichlich Schatten spendeten und an kühlem Nass für die qualmenden Füße ja auch kein Mangel bestand.

Den Badeanzug hatte ich blöderweise im Auto gelassen, so dass ich leider keinen Badevergleich zwischen den verschiedenen Seen bieten kann. Der Schmalsee am Spätnachmittag, so viel immerhin kann ich sagen, ist ein Gedicht, das Wasser so weich wie das Licht, das allmählich die Strenge des Tages verliert.

Von Dichtern und Elchen

Blau war die Stunde. Blau das zarte Band, das der Vorfrühling durch die überraschend lauen Lüfte über der Lübecker Bucht flattern ließ. Umso mehr staunten all die Grauhimmel-Müden, die an diesem Wochenende über die Travemünder Promenade spazierten, als sie auf eine Tierfamilie trafen, die um diese Jahreszeit so niemand mehr (respektive: noch niemand) erwartet hätte, schon gar nicht am Ostseestrand. Die Flaneure reagierten mit Staunen, Lachen und den unvermeidlichen Selfies. Und aus dem Himmelsblau ertönte die Stimme des im Dezember verstorbenen Dichters und Zeichners F.W. Bernstein: „Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche…“

Grinsend bummelten wir durch das Travestädtchen. Als wir uns nach einer großen Portion Pannfisch auf den Weg zurück zum Strandbahnhof machten, war die Sonne schon eine Weile untergegangen. „Dunkel war’s, der Mond schien helle…“

Nicht minder strahlend empfing uns zu unserem Entzücken die nun schon vertraute Tierfamilie.

Jetzt hielt es auch den unvergleichlichen Robert Gernhardt nicht mehr. Sogleich begann er ein „Gespräch mit dem Engel“, vielleicht dem auf der Nachbarwolke:

Ein Geräusch in der Luft, / wie von großen Maschinen:

„Sagn Sie mal – lässt sich das nicht abstellen?“

„Damit kann ich leider nicht dienen. / Das ist das Stöhnen Gottes / beim Betrachten seiner Welten. / Das heißt: Manchmal lacht er auch über sie. / Aber selten.“

Am eisblauen Meer

Während der Himmel über Hamburg allmählich eingrisselt, beame ich mich bei einem Pott Tee der Marke „Elfentraum“ zurück an die Ostsee, auf die Halbinsel Holnis. Ich habe das Naturschutzgebiet im Westen der Flensburger Förde neulich von Glücksburg aus umwandert. Es war ein so strahlend blauer Tag, dass ich nicht einen einzigen Kilometer im Auto oder Bus zurücklegen mochte. Man kann einen Rundgang aber sehr gut auch am Leuchtturm in Schausende oder am Fährhaus an der Ostseite beginnen – man verpasst keines der Highlights und spart einige Kilometer Fußmarsch.

Gleich hinter dem Leuchtturm öffnet sich ein Lebensraum, den es so an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste nur noch selten gibt: das Kleine Noor. Noore sind verlandete Meeresbuchten, die durch Bildung von Strandwällen nach und nach von der Förde, die ja selbst nicht anderes ist als eine (größere) Meeresbucht, getrennt wurden. Bis Anfang des vergangenen Jahrhunderts gab es zwischen dem Noor und der Ostsee noch eine offene Verbindung, die dann abgedeicht wurde. Das Noor wurde leergepumpt und es entstanden landwirtschaftliche Nutzflächen. 1995 kaufte die Stiftung Naturschutz den gesamten Bereich in der Absicht, den Deich an einigen Stellen zurückzubauen, um wieder einen natürlichen Einfluss des Meeres zu ermöglichen. Im Herbst 2002 setzte die Natur zum Überholmanöver an: Die Ostsee überflutete den Deich, es entstand eine mehrere Hektar große, von Brackwasser überstaute Fläche. Über den neuen Durchlass zur Ostsee führt nun eine Brücke.

Kaum hat man die hinter sich gelassen, fällt der Blick auf das Holnisser Kliff, das durch tektonische Verschiebungen während der letzten Eiszeit enstanden ist – und auf Berge von roten und gelben Ziegelsteinen am Strand. Wie auf der dänischen Seite gegenüber gab es auf der Halbinsel früher einige Ziegeleien. Mit dem Rückzug der Gletscher entstanden riesige Eisstauseen. Im ruhigen Wasser konnte sich das feine Sediment absetzen und mächtige Lehm- und Tonschichten bilden. Die Ziegelei Holnishof, von der die hier abgebildeten Ziegel stammen, war bis 1964 in Betrieb.

Auf der Steilküste lohnt es sich, einen Augenblick zu verharren. Bei guter Sicht kann man die gesamte Förde überblicken: das Noor auf der einen, die Salzwiese auf der anderen Seite, Dänemark natürlich, das von drei Seiten ganz nah ist, und weit im Osten vielleicht sogar das offene Meer…

Aber erst einmal führt der Weg weiter hinauf in den schattigen Norden. Eisblau ruht der Himmel über eisblauer See.

Nur ein paar Schritte sind es bis zu der Stelle, wo 1850 ein Flensburger Seemann seine letzte Ruhestätte fand. Da er an Cholera erkrankt war, wurde seinem Schiff auf dem Rückweg von Westindien die Einfuhr nach Flensburg verwehrt. Der Seemann starb an Bord und wurde von seinen Kameraden in aller Stille am Strand begraben. Ungefähr aus der selben Zeit datiert das (weniger fotogene) Soldatengrab auf der Ostseite von Holnis, das an eine See- und Landschlacht mit Dänemark und an den dänischen Soldaten erinnert, der damals auf seinem Schiff erschossen und ebenfalls am Strand begraben wurde.

Zwischen den beiden Gräbern lohnt ein „Boxenstopp“ im Fährhaus, das während meiner Wanderung leider noch Winterpause hatte. Von hier startete einst die Fähre, die Holnis mit dem dänischen Fördeufer verband. Schon im 13. Jahrhundert nutzten die Mönche vom Kloster Rude auf dem Gebiet des heutigen Glücksburg den kurzen Weg über das Wasser, um ihre Besitztümer auf Sundewitt und Broagerland zu erreichen. 1875 fand die letzte Personenüberfahrt statt. Ein Stück weiter treiben zwei Reiter beherzt ihre Pferde in die eiskalten Fluten, als hätten sie vor, ans gegenüberliegende Ufer zu reiten.

Woher der Wind weht

Kann sein, meine Friseurin ist norddeutscher als ich. Seit ich sie kenne, verbringt sie ihre Urlaube an der Ostsee, meist in Schleswig-Holstein, mit Vorliebe auf Fehmarn. Sie war auch schon im Klützer Winkel und auf dem Darß, aber beides mochte sie nicht so. Weil man da nicht so weit gucken kann, sagt sie.

Ich muss wohl ein bisschen blöde (aus der Wäsche) geguckt haben, jedenfalls fügte sie noch hinzu: „Naja, nicht nach allen Seiten eben.“ Stimmt. Wenn man sich umdreht, vom Wasser weg, guckt man in Mecklenburg-Vorpommern oft gegen Bäume.

Der Wald direkt an Stränden und Steilufern ist ja gerade das Besondere an diesem Abschnitt der Ostseeküste. Ja, nickt die Friseurin, schon klar, aber sie fühle sich mit den vielen Bäumen im Rücken halt irgendwie eingeengt.

Dass man an den Küsten von Nord- und Ostsee schon am Montag sehen könne, wer am Sonntag zum Kaffee kommt, ist natürlich eine böswillige Übertreibung süddeutscher Urlaubsgäste, aber das Bedürfnis nach Weite, das ja viel mehr ist als der Wunsch danach, das saugt der typische Norddeutsche wohl tatsächlich bereits mit der Muttermilch auf.

Mag sein, dass meine Friseurin ein bisschen stärker gesaugt hat als ich. Denn mich begeistern all die Nadel-, Laub- und Mischwälder an den Küsten Mecklenburgs und Vorpommerns: der Gespensterwald in Nienhagen ebenso wie die bizarr geformten Windflüchter am Darßer Weststrand, der Buchenwald auf Rügens Kreidefelsen ebenso wie der Usedomer Küstenwald.

Die Fotos dieses Beitrags habe ich von einem Ausflug in den wilden Westen des Darß mitgebracht, der an einem sonnigen Wintertag beinahe etwas Südseeflair gewinnt – sobald der Wind die Wolken aufs weite Meer hinausgepustet hat.