Töne aus der Ferne

Töne aus der Ferne.
Ein Freund früh am Morgen
hinter dem Berg,
Hörnerklang,
Smaragden.

Es ruft mich Gedankengruß,
Kuss sich ahnender Seelen verheißend.

Es verband uns ein Stern,
sein Auge fand uns:
Zwei Ich als Gehalt,
mehr denn als Gefäß.

Heilige Steine gestern,
heute rätsellos,
heute Sinn!:

„Ein Freund früh am Morgen
hinter dem Berg.“

Paul Klee: Töne aus der Ferne (1914)

So bunt

„Lassen Sie mich ein Gleichnis gebrauchen, das Gleichnis vom Baum. Der Künstler hat sich mit dieser vielgestaltigen Welt befaßt, und er hat sich, so wollen wir annehmen, in ihr einigermaßen zurechtgefunden; in aller Stille. Er ist so gut orientiert, daß er die Flucht der Erscheinungen und der Erfahrungen zu ordnen vermag. Die Orientierung in den Dingen der Natur und des Lebens, diese vielverästelte und verzweigte Ordnung möchte ich dem Wurzelwerk des Baumes vergleichen.

Von daher strömen dem Künstler die Säfte zu, um durch ihn und durch sein Auge hindurchzugehn.

So steht er an der Stelle des Stammes. Bedrängt und bewegt von der Macht jenes Strömens, leitet er Erschautes weiter ins Werk.

Wie die Baumkrone sich zeitlich und räumlich nach allen Seiten hin sichtbar entfaltet, so geht es auch mit dem Werk.

Es wird niemand einfallen, vom Baum zu verlangen, daß er die Krone genau so bilde wie die Wurzel. Jeder wird verstehn, daß kein exaktes Spiegelverhältnis zwischen unten und oben sein kann. Es ist klar, daß die verschiedenen Funktionen in verschiedenen Elementarbereichen lebhafte Abweichungen zeitigen müssen. Aber gerade dem Künstler will man zuweilen diese schon bildnerisch notwendigen Abweichungen von den Vorbildern verwehren. Man ging sogar im Eifer so weit, ihn der Ohnmacht und der absichtlichen Fälschung zu zeihn.

Und er tut an der ihm zugewiesenen Stelle beim Stamme doch gar nichts anderes, als aus der Tiefe Kommendes zu sammeln und weiterzuleiten. Weder dienen noch herrschen, nur vermitteln.

Er nimmt also eine wahrhaft bescheidene Position ein. Und die Schönheit der Krone ist nicht er selber, sie ist nur durch ihn gegangen.“

Paul Klee: Über die moderne Kunst (Auszug)

Der vollständige Text ist veröffentlicht in Heft 91 von „Tà katoptrizómena“. Das Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik“ erscheint ausschließlich im Internet und basiert, wie auf der Homepage nachzulesen ist, auf dem Prinzip des geteilten Wissens.

„Engel, übervoll“

11185421nAlain de Botton: Kunst des Reisens. Frankfurt 2003

Paul Klee: Engel. Hamburger Kunsthalle

Über Pfingsten habe ich eine Ausstellung besucht, dreieinhalb Bücher gelesen und 701 Gedanken gesponnen, vielleicht auch mehr. So kann’s gehen, wenn es immerzu regnet. Dies soll eine Buchbesprechung werden. Aber angefangen hat es mit einer Ausstellung.

imagesMit einer Ausstellung von Paul Klees Engelbildern in der Hamburger Kunsthalle. Die meisten der spitzflügeligen Wesen hat der Künstler in seinen letzten Lebensjahren aufs Papier gebracht, viele mit kühnem Bleistiftstrich: sehr menschlich, oft unfertig oder im Übergang, zweifelnd, voller Hoffnung, teuflisch, mal anrührend („Engel, noch tastend“), mal urkomisch („Engel im Schreiten, noch unerzogen“). Beim Verlassen des Gebäudes ertappe ich mich kurz bei dem Gedanken, ob ich mir vielleicht noch eine der anderen aktuellen Ausstellungen ansehen sollte. Schließlich sind die in dem stolzen Eintrittspreis ebenso inbegriffen wie die ständige Sammlung. Ach nein! Nicht Giacomettis „Spielfelder“ über Klees Engel stülpen, auch wenn es der letzte „Spieltag“ ist. Und lieber ein andermal „Besser scheitern“.

Seit Jahren verzichte ich nun schon darauf, ein ganzes Museum auf einmal abzuarbeiten, nur weil es so billiger ist. Ich gebe zu, daran denken tue ich immer mal wieder. Und meine Liebe gehört eindeutig den kleineren Kunsträumen, die sich bei einem Besuch komplett bewältigen lassen. Bei den großen Häusern mache ich selbst einen Schnitt, beschränke mich auf eine von mehreren Ausstellungen oder einen Teil einer Ausstellung. Manchmal hätte ich es gern noch reduzierter, würde am liebsten in der Mittagspause oder am Abend mal eben vorbeischauen, einige wenige Objekte oder Bilder betrachten und wieder gehen. Diesen ganz alltäglichen Kunstgenuss habe ich vor vielen Jahren bei einem längeren Aufenthalt in Madrid (schätzen) gelernt. Wieder und wieder zog es mich damals ins Museo Nacional de Arte Reina Sofía. Mal in eine aktuelle Ausstellung, mal zu meinem jeweiligen Lieblingsbild daraus. Und immer wieder zu Picassos „Guernica“. Das hatte auch mit der Gestaltung der Eintrittspreise zu tun, keine Frage. Zu bestimmten Zeiten war der Besuch der „Reina Sofía“ sogar frei, wenn ich mich richtig erinnere, und ist es wohl heute noch. Aber geblieben ist vor allem das tiefe Erleben, dass weniger oft mehr ist und Neugier und Aufmerksamkeit gute Guides – in der Kunst ebenso wie auf Reisen.

Noch ganz beseelt vom freudigen Erinnern fiel mir Alain de Bottons „Kunst des Reisens“ in die Hände. Ich las und las. Über Erwartungen vor der Abreise, über Orte des Fortgehens und des Ankommens, über Gründe für das Reisen, darunter die individuelle Wissbegierde …, und stand plötzlich schon wieder mitten in der spanischen Hauptstadt: „Eine Gefahr beim Reisen besteht darin, dass wir Dinge zur Unzeit sehen, das heißt, bevor wir die notwendige Empfänglichkeit ausbilden konnten. … Sind wir an einen Ort gereist, den wir wahrscheinlich nie wieder besuchen werden, so fühlen wir uns verpflichtet, nacheinander Sehenswürdigkeiten zu bewundern, die nichts anderes verbindet als die räumliche Nähe. … Der Madrid-Besucher soll sich für den Palacio Real interessieren, für eine aus dem 18. Jahrhundert stammende Königsresidenz, … und – nur kurze Zeit später – für das Centro de Arte Reina Sofía, eine Kunstgalerie mit weißen Mauern, in deren Sammlung von Kunstwerken des 20. Jahrhunderts Picassos ‚Guernica‘ einen Höhepunkt darstellt. Genau die sollte jemand, der sein Wissen über die Architektur von Königsschlössern aus dem 18. Jahrhundert vertiefen möchte, aber auslassen. Natürlich verliefe eine Entwicklung, wenn derjenige sich vom Palacio Real zur Prager Burg oder zum ehemaligen Zarenpalast nach St. Petersburg aufmachte.“

Ich fürchte, eine richtige Rezension wird das hier nicht mehr. Aber ich rate zu: zu Klees Engeln, zu Madrid – und zu Alain de Bottons Essays über das Reisen. In ferne Länder ebenso wie vor der eigenen Haustür: „Bewegen wir uns mit der Einstellung von Reisenden an unserem angestammten Platz, erweist der sich womöglich als nicht weniger interessant als die Hochgebirgspässe und die von Schmetterlingen durchschwirrten Dschungel in Humboldts Südamerika. Was also kennzeichnet die Einstellung beim Reisen? Empfänglichkeit ist wohl ihr wichtigstes Merkmal. Wir nähern uns Neuem mit Demut. Wir haben keine fest gefügten Vorstellungen darüber im Gepäck, was interessant ist. Wir verunsichern Einheimische, weil wir auf Verkehrsinseln und auf schmalen Straßen stehen und bewundern, was sie für seltsame kleine Details halten. Wir laufen Gefahr, umgerannt zu werden, weil wir gefesselt sind vom Dach eines Regierungsgebäudes oder einer Mauerinschrift. Wir finden einen Supermarkt oder einen Frisiersalon ungemein faszinierend. Wir betrachten ausgiebig das Layout einer Speisekarte oder die Kleidung des Sprechers der Abendnachrichten. Wir erkennen die Spuren der Vergangenheit im Gegenwärtigen und machen Aufzeichnungen und Fotos.“