Zur Melodie der Dinge

Ganz am Anfang sind wir, siehst du.

Wie vor allem. Mit tausend und einem Traum hinter uns und ohne Tat.

Ich kann mir kein seligeres Wissen denken, als dieses eine:

dass man ein Beginner werden muss.

Einer, der das erste Wort schreibt hinter einen jahrhundertelangen Gedankenstrich.

Rainer Maria Rilke: Notizen zur Melodie der Dinge

It’s up to you

Zeit vertreiben –
Reize verbitten?

Zeit verschenken –
Heinz verstecken!

Im Stapel ungelesener Zeitungen und Zeitschriften stieß ich auf diese Überschrift: „10 Tipps. So kannst du dir im Lockdown die Zeit vertreiben“. Die Vorstellung, Zeit zu vertreiben, sei es auch nur sich selbst gegenüber, empfand ich schon immer als bizarr. Meine Entscheidung, Heinz zu verstecken, fiel deshalb leicht.

Rainer Maria Rilke hätte das auch getan, glaube ich:

Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben!
Sie zu halten, wäre das Problem.
Denn, wen ängstigts nicht: wo ist ein Bleiben,
wo ein endlich Sein in alledem? …

Und Erich Kästner erst:

Denkt an das fünfte Gebot:
Schlagt eure Zeit nicht tot!

Weihnachtsfokus

Vor ein paar Tagen habe ich hier schon einmal mit Goethe Lebenskunst-Quartett gespielt. Der alte Geheimrat wusste, was den Tag zu einem ganz besonderen machen kann: „ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und … einige vernünftige Worte sprechen“.

Heute, am Heiligen Abend, kann das Lied für mich nur Sinéad O‘Connors Version von „Silent Night“ sein. Ihre extrem langsame tiefe Interpretation rührt mich immer wieder zu Tränen, auch weil sie die Hoffnung nährt: Frieden ist möglich. Wenn Engel singen, dann sicher so wie diese irische Musikerin.

Das in der Sammlung „Dir zur Feier“ erschienene Gedicht von Rainer Maria Rilke erinnert mich daran, dass das Leben nicht „entweder oder“ sondern „sowohl als auch“ ist.

Das Leben ist gut und licht.
Das Leben hat goldene Gassen.
Fester wollen wirs fassen,
wir fürchten das Leben nicht.

Wir lieben Stille und Sturm,
die bauen und bilden uns beide:
Dich – kleidet die Stille wie Seide,
mich – machen die Stürme zum Turm…

Statt eines Gemäldes möchte ich heute zwei Skulpturen in den Fokus rücken: die begehbaren „Gesellschaftsspiegel“ des Berliner Künstlers Ólafur Elíasson, die seit dem Herbst den Neuen Wall am Hamburger Rathaus zieren. Mit den überdimensionalen Kaleidoskopen lädt Elíasson Passanten dazu ein, „die unbekannten Möglichkeiten in einer vertrauten Umgebung zu entdecken“. Nichts ist ja nur, was es auf den ersten Blick zu sein scheint…

Vernünftige Worte? Die schönsten flatterten mir mit der Weihnachtspost ins Haus. Es sind die Wünsche meiner Kusine D. für das neue Jahr: „Gesundheit ganz ohne Maske, Querdenken ganz ohne Idioten, sich sehen und in den Arm nehmen ganz ohne schlechtes Gewissen…“

Frohe Weihnachten!

Ich glaube an Nächte

Du Dunkelheit, aus der ich stamme,
ich liebe dich mehr als die Flamme,
welche die Welt begrenzt,
indem sie glänzt
für irgend einen Kreis,
aus dem heraus kein Wesen von ihr weiß.

Aber die Dunkelheit hält alles an sich:
Gestalten und Flammen, Tiere und mich,
wie sie’s errafft,
Menschen und Mächte –

Und es kann sein: eine große Kraft
rührt sich in meiner Nachbarschaft.

Ich glaube an Nächte.

Rainer Maria Rilke (Aus: Das Stundenbuch, Vom mönchischen Leben)

Der Abend ist mein Buch

Der Abend ist mein Buch. Ihm prangen
die Deckel purpurn in Damast.
Ich löse seine goldnen Spangen
mit kühlen Händen, ohne Hast.

Und lese seine erste Seite,
beglückt durch den vertrauten Ton, –
und lese leiser seine zweite,
und seine dritte träum ich schon…

Rainer Maria Rilke: Der Abend ist mein Buch

An diesem stillen See in der brandenburgischen Schorfheide nahe des Klosters Chorin nahm ich für ein paar Tage Quartier. Viel erholsamer kann man seine Zeit kaum zubringen als morgens und abends in den Großen Heiligen See (oder einen der vielen anderen Seen in dem Biosphärenreservat) zu tauchen und dazwischen endlos durch beinahe menschenleere Felder und Wälder zu streifen. Dass ich Abendbilder poste, ist kein Zufall. Dann ist alles noch weicher: das Licht, das Wasser. Und tiefer Friede durchströmt die Seele.

Von vornherein zeitlos

Blassgelbe Falter schaukeln wie Laub in der Lichtung. Ein Stöckchen bringt die stille Oberfläche des Sees für einen Moment zum Kreisen. Mit weit aufgerissenem Maul juchzt ihm ein Hund hinterher. Langsam wickeln wir unser Butterbrot aus dem Papier.

„… die Freude ist ein Moment, unverpflichtet, von vornherein zeitlos; nicht zu halten, aber auch nicht eigentlich wieder zu verlieren…“

Aus einem Brief Rainer Maria Rilkes an Ilse Erdmann, „am letzten Januar 1914“

Dialog der Geborgenheit

„Ich möchte jemanden einsingen,
bei jemandem sitzen und sein.
Ich möchte dich wiegen und kleinsingen
und begleiten schlafaus und schlafein.
Ich möchte der Einzige sein im Haus,
der wüßte: die Nacht war kalt.
Und möchte horchen herein und hinaus
in dich, in die Welt, in den Wald.
Die Uhren rufen sich schlagend an,
und man sieht der Zeit auf den Grund.
Und unten geht noch ein fremder Mann
und stört einen fremden Hund.
Dahinter wird Stille. Ich habe groß
die Augen auf dich gelegt;
und sie halten dich sanft und lassen dich los,
wenn ein Ding sich im Dunkel bewegt.“

Rainer Maria Rilke: Zum Einschlafen zu sagen (Das Buch der Bilder)

*

„Ich lag, ein kleines Kind, in meiner Mutter Schoße / Und spielte, still entzückt, mit Lilie und Rose, / Und, von dem Duft berauscht, versank ich allgemach / In Schlummer, lind und süß, wie jener Maientag.

Ich lag auch noch im Traum in meiner Mutter Schoße / Und spielte, wie vorher, mit Lilie und Rose, / Und sah, wie Ros’ auf Ros’ dem Himmel sanft entquoll, / Indes die Erde leis zum Lilienbeet erschwoll.

Ach rings nun, statt der Welt, nur Lilie und Rose, / Dazu der Mutter Blick und ihres Hauchs Gekose! / Selbst in der Seele war kein andres Bild mehr da, / Ich wusste nur von dem, was rings mein Auge sah.

Ich lag erwachend noch in meiner Mutter Schoße, / In Händen hielt ich fest die Lilie und die Rose, / Die Mutter, über mich gebeugt, sah still mich an; / O einz’ge Stund’, wo Traum und Sein in Eins zerrann!“

Friedrich Hebbel: Leben und Traum

Das Bild „Maria mit dem schlafenden Kind“ hat um die Mitte des 15. Jahrhunderts herum der italienische Maler und Grafiker Andrea Mantegna geschaffen. Ich habe es in der Ausstellung „Mantegna und Bellini. Meister der Renaissance“ in der Berliner Gemäldegalerie fotografiert, wo ausdrücklich dazu eingeladen wird, seine Eindrücke in Wort und Bild zu teilen. Andrea Mantegna und Giovanni Bellini waren Freunde, Schwäger und Konkurrenten. Sie haben sich gegenseitig inspiriert und kopiert. In Berlin wird das eng miteinander verwobene Schaffen der beiden Künstler in Kooperation mit der Londoner National Gallery und dem British Museum erstmals in einer Ausstellung präsentiert – noch bis zum 30. Juni.

Mantegna gilt als der Rationalere von beiden, der gern mit perspektivischen Verkürzungen experimentierte, während es Bellini primär um das reine Gefühl ging. Vor diesem Hintergrund sticht Mantegnas „Maria mit dem schlafenden Kind“, dem ein Mangel an Gefühl gewiss nicht vorzuwerfen ist, doppelt hervor. Für mich ist es eines der schönsten Bilder der Ausstellung.

Auf den Hund gekommen

„Die Hunde haben mehr Spaß an den Menschen als diese an den Hunden, weil der Mensch offenkundig der Komischere der beiden Kreaturen ist.“ (James Thurber)

Der Sommer war sehr groß. Südlichere Tage gab es auch hier im Norden in Hülle und Fülle. Einmal noch balgten sich Herr und Hund im Gras, dann legten sich herbstliche Schatten auf die Sonnenuhren.