Jenseits der Korngrenze

„Fragen stellen, miteinander reden. Es war so einfach, es war so schwer. Aber sie übten sich darin, sie trainierten es wie einen Muskel. Am Anfang war es noch ungewohnt, es war anstrengend, und es tat manchmal weh, aber sie wurden besser darin mit der Zeit. Mit den Zyklen, die sie erlebten. Der Herbst kam, dann der Winter, und alles begann wieder von vorn. Ein kleiner Junge weinte und wurde auf den Arm genommen, eine Frau und ein Mann stritten sich und vertrugen sich wieder. Die einen wurden groß, die anderen wurden alt. Ende März hatte die Sonne den Boden genug gewärmt, es wurde Zeit, den Acker zu bestellen. Sie hatten ein Korn gewählt, das sich hier auskannte, unendlich tief wurzelte, robust war, und so ziemlich alles überstand, was sich ihm hier in den Weg stellen wollte.“

Jarka Kubsova: Bergland. Roman, München 2021

Ungeachtet des Umstandes, dass ich den größten Teil meines bisherigen Lebens in der norddeutschen Tiefebene verbracht habe, und das keineswegs ungern, lebt in einem Winkel meines Herzens eine leidenschaftliche Berglerin. Eine, die auf Reisen mit Begeisterung Gipfel erklimmt und bis heute gelegentlich mit dem Gedanken liebäugelt, sich mal einen Sommer lang als Sennerin auf einer Alm zu versuchen. Vor allem aber ist es eine, die Bergbücher aller Art „frißt“. Über das Drama am Mount Everest im Frühjahr 1996 zum Beispiel, bei dem zwölf Bergsteiger ihr Leben ließen, verschlang ich wohl jede Deutung und Einordnung der Ereignisse jedes Überlebenden dieses Wahnsinns auf dem Dach der Welt. Mehr noch als Reiseabenteuer aus der Bergwelt liebe ich allerdings Bergbauernromane. Die guten kitschfreien, versteht sich. Solche wie Robert Seethalers „Ein ganzes Leben“ oder Monika Helfers „Die Bagage“.

„Bergland“, der Erstling der Journalistin Jarka Kubsova, ist auch so eine Perle. Die gebürtige Tschechin und Wahlhamburgerin erzählt darin ebenso einfühlsam wie unsentimental die Geschichte dreier Generationen auf einem hoch gelegenen Bauernhof in den Südtiroler Alpen. Es sind starke, eigenwillige Charaktere, die vor dem Hintergrund der Verhältnisse ihrer Zeit darum ringen, die Existenz des Hofs zu sichern. Gehen oder bleiben? Irgendwann steht jeder der Protagonisten vor dieser Frage. Am Ende ist keiner gegangen. Man ist versucht hinzuzufügen: natürlich nicht. Sie sind ja wie das Korn, das sie anbauen. Dieses Korn, das wächst und sich behauptet und sogar gedeiht, obwohl das Land eigentlich jenseits der Korngrenze liegt.

Österreichisches Trio

Alle drei sind dünn, alle drei spielen in Österreich auf dem Land und wurden auch von ÖsterreicherInnen geschrieben. Der älteste der drei Romane ist 2014 erschienen, die beiden anderen 2020. Schon wenn man den jeweils ersten Satz liest, bekommt man ein Gefühl für das, was einen erwartet. Jedenfalls empfinde ich das im Rückblick so. Diese ersten Sätze gehen so:

„An einem Februarmorgen des Jahres neunzehnhundertdreiunddreißig hob Andreas Egger den sterbenden Ziegenhirten Johannes Kalischka, der von den Talbewohnern nur der Hörnerhannes gerufen wurde, von seinem stark durchfeuchteten und etwas säuerlich riechenden Strohsack, um ihn über den drei Kilometer langen und unter einer dicken Schneeschicht begrabenen Bergpfad ins Dorf hinunterzutragen.“ (Robert Seethaler: Ein ganzes Leben. Roman, 2014)

„Hier, nimm die Stifte, male ein kleines Haus, einen Bach ein Stück unterhalb des Hauses, einen Brunnen, aber male keine Sonne, das Haus liegt nämlich im Schatten!“ (Monika Helfer: Die Bagage. Roman, 2020)

„Theresa rang nach Luft.“ (Dominik Barta: Vom Land. Roman, 2020)

Robert Seethalers Roman ist mit 155 Seiten der schmalste der drei dünnen Österreicher und für mich zugleich der stärkste. Ich habe hier schon ausgiebig von der Geschichte des Andreas Egger geschwärmt, der sein hartes Leben mit der gleichen Langmut trägt wie eingangs den Hörnerhannes. Monika Helfers stark autobiografischer Roman mutet ähnlich archaisch an. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die Großeltern der Autorin: die schöne Maria und der geschäftstüchtige und gefürchtete Josef. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs leben sie mit ihren vier Kindern als arme Bauern am Rande eines Dorfs in Oberösterreich. Als Josef eingezogen wird, soll der Bürgermeister auf die Familie achten, darauf, dass sie zu essen haben, aber auch auf Marias eheliche Treue. Es kommt, wie es kommen muss: Schon bald machen andere Männer, darunter auch der Bürgermeister, Maria Avancen. Sie wird schwanger, Gerüchte schießen wie Pilze aus dem Boden, dabei hatte Josef zum passenden Zeitpunkt sogar Heimaturlaub. Die Familie wird immer mehr zur „Bagage“, zu Außenseitern am Rande der dörflichen Gesellschaft. Die Geschwister schweißt das durchaus zusammen, ein Sohn greift sogar zur Waffe, um die Mutter zu verteidigen. Josef selbst wird nie mit dem 1915 geborenen fünften Kind sprechen, der Mutter der Autorin. Dieses Haus liegt im Schatten, keine Frage.

Im Vergleich zu Monika Helfers bei aller Knappheit dichter und anrührender Familiengeschichte mutet Dominik Bartas Erzählung vom Land und seinen Bewohnern etwas grob und holzschnittartig an. Da ist Theresa, Bäuerin um die Sechzig, die sich plötzlich krank fühlt. Ihr Mann, der nicht versteht, warum seine Frau nicht mehr funktioniert wie bisher. Die erwachsenen Kinder, die aus ihren Leben außerhalb des Dorfs angereist kommen und sich auch keinen Reim machen können. Da ist die Enge des Dorfs. Die Erwachsenen mit ihrer Ausländerfeindlichkeit und den Stammtischparolen. Der Junge, der mit dem neuen syrischen Freund in das Baumhaus im Wald flieht. Und über und in allem: eine Sprachlosigkeit, die sich von den handelnden Personen auf die kargen Beschreibungen in diesem schmalen Band zu übertragen scheint, bisweilen bis an den Rand der Gehaltlosigkeit. „Woran dachte diese Frau? Was ging in ihr vor? Was war geschehen?“ Theresa rang nach Luft. Viel mehr wissen wir auch nach der Lektüre nicht.

Ein ganzes Leben

Robert Seethaler: Ein ganzes Leben. Roman. München 2014

278x453x978-3-446-24645-4_9783446246454.jpg.pagespeed.ic.XaLw0wqeEt„Einmal, während einer kurzen Rast am Zwanzigerkogel, packte ihn ein vor Ergriffenheit bebender junger Mann an den Schultern und schrie ihn an: ‚Sehen Sie denn nicht, wie wunderschön das alles hier ist!‘ Egger blickte in das von Glückseligkeit verzerrte Gesicht und sagte: ‚Schon, aber gleich wird es regnen, und wenn die Erde zu rutschen anfängt, ist es vorbei mit der ganzen Schönheit.'“ (S. 119)

Ich musste lachen. Das hätte der Karl auch gesagt haben können. Klein und drahtig, das Gesicht vom Draußensein bei jedem Wetter ledrigbraun und voller Furchen, ein Mann undefinierbaren Alters mit rauem festem Händedruck – so erwartete er uns auf einem Parkplatz am Rande des Stubaitals. Unser Bergführer für die kommende Woche. Eigentlich kam der Karl aus dem Ötztal. Er erwähnte das, als läge eine Reise um die halbe Welt zwischen den benachbarten Alpentälern. Auch der Karl gestand uns nur kurze Rasten zu. Gucken, fand er, könnten wir noch, wenn wir den Gipfel erreicht hätten. Der Karl sprach wenig. Waren es einmal drei Sätze am Stück, ging es vermutlich um die Formation von Cirrus- und anderen Wolken. Für meine bergberauschten Sinne mochte sich das wie Poesie anhören – der Karl war mit seinen Gedanken ganz unsentimental bei der Tiefdruckzone, die sich über dem Gletscher bildete.

„Er hatte seine Kindheit, einen Krieg und eine Lawine überlebt. Er war sich nie zu schade für die Arbeit gewesen, hatte eine unübersichtliche Anzahl von Löchern in den Fels gesprengt und wahrscheinlich genug Bäume geschlagen, um mit ihrem Holz einen Winter lang die Öfen einer ganzen Kleinstadt zu befeuern. Er hatte oft und oft sein Leben an einen Faden zwischen Himmel und Erde gehängt und in seinen letzten Jahren als Fremdenführer hatte er mehr über die Menschen erfahren, als er begreifen konnte. Soweit er wusste, hatte er keine nennenswerte Schuld auf sich geladen, und er war den Verlockungen der Welt, der Sauferei, der Hurerei und der Völlerei, nie verfallen. Er hatte ein Haus gebaut, hatte in unzähligen Betten, in Ställen, auf Laderampen und ein paar Nächte sogar in einer russischen Holzkiste geschlafen. Er hatte geliebt. Und er hatte eine Ahnung davon bekommen, wohin die Liebe führen konnte. Er hatte gesehen, wie ein paar Männer auf dem Mond herumspazierten. Er war nie in die Verlegenheit gekommen, an Gott zu glauben, und der Tod machte ihm keine Angst. Er konnte sich nicht erinnern, wo er hergekommen war, und letztendlich wusste er nicht, wohin er gehen würde. Doch auf die Zeit dazwischen, auf sein Leben, konnte er ohne Bedauern zurückblicken, mit einem abgerissenen Lachen und einem einzigen, großen Staunen.“ (S. 146 f)

Nein, religiös war dieser Andreas Egger sicher nicht. Und doch ließe sich sein Leben mit dem bekannten Psalm umschreiben: „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.“ Es ist ein hartes Leben, das der Österreicher Robert Seethaler in seinem fünften Roman auf gerade einmal 150 Seiten ruhig, unpathetisch, auf das Wesentliche reduziert erzählt. Das Glück ist darin nicht mehr als ein flüchtiger Gast. Der Hilfsknecht, Seilbahnbauer, Kriegsgefangene und Bergführer Andreas Egger nimmt das eine wie das andere hin. Er begehrt nicht auf, zerbricht aber auch nicht – nicht an den brutalen Misshandlungen des Pflegevaters und nicht an den Schlägen, die das Schicksal ein Leben lang für ihn bereithält. Genügsam erfüllt er seine Pflicht. Es zieht ihn nicht an andere Orte und er träumt auch nicht von einem anderen Leben, wie wir modernen (Stadt-)Menschen dies so gerne tun.

Was mich immer wieder fasziniert, in der Literatur ebenso wie im wirklichen Leben, ist, dass weder das eine noch das andere Modell ein Garant für Glück oder Zufriedenheit ist. Eine erste Ahnung davon, dass auch ein Leben, das mir selbst eng erschiene, sehr erfüllt sein kann, erhielt ich, als ich in einem anderen Jahrhundert im Norden Griechenlands eine sehr alte Frau kennenlernte, die bis auf einige wenige Ausflüge in die nahe Kleinstadt nie aus ihrem Dorf herausgekommen war. Mit einer Mischung aus Schaudern und Entzücken verfolgte sie „Raumschiff Enterprise“ im Fernsehen und wenn Mr. Spock auf dem Bildschirm auftauchte, staunte sie darüber nicht weniger als Andreas Egger über die Männer, die auf dem Mond herumspazierten. Aber selbst der Weg vom Ötztal ins Stubaital kann weit sein.

Und so, wie die Begegnung mit einem Menschen gut tut, dessen Leben sich auf die eine oder andere Weise erfüllt, so tut auch die Lektüre dieses Romans gut. „Wer seiner Seele eine Freude machen will“, sagte Christine Westermann im WDR, „der lese dieses Buch.“ Der Aufforderung kann ich mich nur anschließen.