Österreichisches Trio

Alle drei sind dünn, alle drei spielen in Österreich auf dem Land und wurden auch von ÖsterreicherInnen geschrieben. Der älteste der drei Romane ist 2014 erschienen, die beiden anderen 2020. Schon wenn man den jeweils ersten Satz liest, bekommt man ein Gefühl für das, was einen erwartet. Jedenfalls empfinde ich das im Rückblick so. Diese ersten Sätze gehen so:

„An einem Februarmorgen des Jahres neunzehnhundertdreiunddreißig hob Andreas Egger den sterbenden Ziegenhirten Johannes Kalischka, der von den Talbewohnern nur der Hörnerhannes gerufen wurde, von seinem stark durchfeuchteten und etwas säuerlich riechenden Strohsack, um ihn über den drei Kilometer langen und unter einer dicken Schneeschicht begrabenen Bergpfad ins Dorf hinunterzutragen.“ (Robert Seethaler: Ein ganzes Leben. Roman, 2014)

„Hier, nimm die Stifte, male ein kleines Haus, einen Bach ein Stück unterhalb des Hauses, einen Brunnen, aber male keine Sonne, das Haus liegt nämlich im Schatten!“ (Monika Helfer: Die Bagage. Roman, 2020)

„Theresa rang nach Luft.“ (Dominik Barta: Vom Land. Roman, 2020)

Robert Seethalers Roman ist mit 155 Seiten der schmalste der drei dünnen Österreicher und für mich zugleich der stärkste. Ich habe hier schon ausgiebig von der Geschichte des Andreas Egger geschwärmt, der sein hartes Leben mit der gleichen Langmut trägt wie eingangs den Hörnerhannes. Monika Helfers stark autobiografischer Roman mutet ähnlich archaisch an. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die Großeltern der Autorin: die schöne Maria und der geschäftstüchtige und gefürchtete Josef. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs leben sie mit ihren vier Kindern als arme Bauern am Rande eines Dorfs in Oberösterreich. Als Josef eingezogen wird, soll der Bürgermeister auf die Familie achten, darauf, dass sie zu essen haben, aber auch auf Marias eheliche Treue. Es kommt, wie es kommen muss: Schon bald machen andere Männer, darunter auch der Bürgermeister, Maria Avancen. Sie wird schwanger, Gerüchte schießen wie Pilze aus dem Boden, dabei hatte Josef zum passenden Zeitpunkt sogar Heimaturlaub. Die Familie wird immer mehr zur „Bagage“, zu Außenseitern am Rande der dörflichen Gesellschaft. Die Geschwister schweißt das durchaus zusammen, ein Sohn greift sogar zur Waffe, um die Mutter zu verteidigen. Josef selbst wird nie mit dem 1915 geborenen fünften Kind sprechen, der Mutter der Autorin. Dieses Haus liegt im Schatten, keine Frage.

Im Vergleich zu Monika Helfers bei aller Knappheit dichter und anrührender Familiengeschichte mutet Dominik Bartas Erzählung vom Land und seinen Bewohnern etwas grob und holzschnittartig an. Da ist Theresa, Bäuerin um die Sechzig, die sich plötzlich krank fühlt. Ihr Mann, der nicht versteht, warum seine Frau nicht mehr funktioniert wie bisher. Die erwachsenen Kinder, die aus ihren Leben außerhalb des Dorfs angereist kommen und sich auch keinen Reim machen können. Da ist die Enge des Dorfs. Die Erwachsenen mit ihrer Ausländerfeindlichkeit und den Stammtischparolen. Der Junge, der mit dem neuen syrischen Freund in das Baumhaus im Wald flieht. Und über und in allem: eine Sprachlosigkeit, die sich von den handelnden Personen auf die kargen Beschreibungen in diesem schmalen Band zu übertragen scheint, bisweilen bis an den Rand der Gehaltlosigkeit. „Woran dachte diese Frau? Was ging in ihr vor? Was war geschehen?“ Theresa rang nach Luft. Viel mehr wissen wir auch nach der Lektüre nicht.

Ambrosisch

meistens_alles_sehr_schnell-9783423249010Christopher Kloeble: Meistens alles sehr schnell. Roman. München 2012

Viel Zeit bleibt Albert nicht um herauszufinden, wer seine Mutter ist. Der 19-Jährige ist im Heim aufgewachsen. Fred, zu dem er noch nie Vater gesagt hat, weil Albert sich selbst immer eher wie Freds Vater fühlte, ist todkrank. Fred ist inzwischen über Sechzig, riesengroß und geistig ein Kind. Seine Lieblingslektüre sind Lexika, er zählt mit Begeisterung grüne Autos, und wen oder was er so richtig gern mag, nennt er „ambrosisch“. Albert zieht zu Fred, um dessen letzte Monate gemeinsam zu verbringen und um endlich der eigenen Herkunft auf die Spur zu kommen.

Ohne Einzelheiten zu verraten: Die Geschichte hat es in sich. Sie beginnt in einer Hochsommernacht des Jahres 1912 in der oberbayrischen Provinz und umspannt mit allerlei Vor- und Rückblenden und rasanten Perspektivwechseln fast ein ganzes Jahrhundert. Düstere Geheimnisse, Tabubrüche und Schuld inklusive. Das Buch ist vieles in einem: Familiengeschichte, Dorfchronik und Heimatroman, Krimi und Lovestory. Toll geschrieben, extrem spannend, witzig, traurig, warmherzig. Sehr zu empfehlen!

Geschichten zur Nacht

Ziefle_SunaPia Ziefle: Suna. Roman. Berlin 2013 (TB)

„Als ich begann, die Sprache meines Vaters zu lernen, ist sie in mich hineingerutscht, als würden Dinge und Wörter, Bilder und Töne nur zurück an ihren Platz rücken.“ An dieser Stelle ist die Geschichte, die den Leser quer durch Deutschland und halb Europa und weit ins vergangene Jahrhundert führt, beinahe schon zu Ende. Es ist die siebte Nacht, in der Luisa ihr Kind, das partout nicht schlafen will, durch das stille Haus trägt und erzählt und erzählt wie einst Sheherazade, sieht man einmal davon ab, dass es hier weniger ums Überleben als um Seelenfrieden geht. „Sie kann keine Wurzeln schlagen. Finden Sie Ihre“, hatte der alte Dorfarzt der jungen Mutter geraten.

Wurzeln. Davon hat die Protagonistin dieses wunderbaren Romans (und offenbar auch die Autorin Pia Ziefle selbst) so viele, das würde für ein kleines Wäldchen reichen. Da sind die deutschen Adoptiveltern, die serbische Mutter und der anatolische Vater, Großmütter und Großväter, Onkel und Tanten… Kriegskinder und Spätheimkehrer, die ersten Gastarbeiter in der Bundesrepublik… Jeder mit seiner ganz eigenen Sehnsucht, mit seinen eigenen Prüfungen und doch auch stellvertretend für viele. „Suna“ ist Familien- und Zeitgeschichte in einem.

Was mir an diesem Buch am besten gefällt? Einfach alles (abgesehen vielleicht vom Cover). Aber wenn ich mich entscheiden müsste: seine klare Struktur, die schnörkellos-poetische Sprache und die Vorurteilsfreiheit, mit der die Autorin jede ihrer Figuren zeichnet. Dieser Stimme würde ich gerne noch viele Nächte lauschen.