Nicht fertig werden

Die Herzschläge nicht zählen
Delfine tanzen lassen
Länder aufstöbern
Aus Worten Welten rufen
horchen was Bach
zu sagen hat
Tolstoi bewundern
sich freuen
trauern
höher leben
tiefer leben
noch und noch
Nicht fertig werden

Rose Ausländer: Nicht fertig werden

Selten hat mich ein Gedicht so punktgenau erreicht wie diese Zeilen von Rose Ausländer. Ja, das wünsche ich mir für das neue Jahr: Die Herzschläge nicht zählen, überhaupt nicht so viel zählen und wägen, sondern leben, mit allen Fasern. Delfine habe ich schon mal tanzen lassen. Das war auf einer Kajaktour durch den Doubtful Sound im Süden Neuseelands. Wie aus dem Nichts sprang ein Dutzend der kecken Gesellen um und über unser Boot und forderte meinen Partner und mich zum Spiel. Wir paddelten wie die Verrrückten, um mitzuhalten. Eigentlich haben also nicht wir die Delfine sondern die Delfine uns tanzen lassen… Zwanzig Jahre ist das nun schon her, aber die pure Freude, die ich damals empfand, wird mich bis ans Ende aller Herzschläge begleiten. Irgendwann werde ich wieder Länder aufstöbern. Was für ein großartiges Bild! Und bis dahin rufe ich mir aus Worten Welten. Aus Büchern, aus Gesprächen. Ich werde lauschen, werde bewundern und staunen. Ich werde mich freuen, wenn es Zeit ist mich zu freuen, und trauern, wenn es Zeit ist zu trauern. Beides wird mir helfen, höher und zugleich tiefer zu leben. Aufrechter. Bewusster. Noch und noch. Und ich weiß, ich werde nicht fertig werden. Und das ist genau richtig so.

Gemeinsam

Vergesset nicht
Freunde
wir reisen gemeinsam

besteigen Berge
pflücken Himbeeren
lassen uns tragen
von den vier Winden

Vergesset nicht
es ist unsre
gemeinsame Welt
die ungeteilte
ach die geteilte

die uns aufblühen läßt
die uns vernichtet
diese zerrissene
ungeteilte Erde
auf der wir
gemeinsam reisen

Rose Ausländer: Gemeinsam

Einer dieser Tage

Unter fallenden Kastanien / den Garten umarmen

Durch Zeitgeräusch wandern / von Stimme zu Stimme

Herzliche Briefe / lieben

Sich an allen Ecken / wundstoßen / und ganz bleiben

Rose Ausländer: Ganz bleiben

Die Fotos habe ich von einem Spaziergang an der verwunschenen Ostseite des Schaalsees mitgebracht. Es war einer dieser Tage dazwischen: nicht mehr ganz Sommer, noch nicht ganz Herbst und gerade eben warm genug, um am Abend den frisch geräucherten Saibling auf einer Bank direkt am See zu verspeisen.

Manchmal spricht ein Baum

Manchmal spricht ein Baum
durch das Fenster mir Mut zu
Manchmal leuchtet ein Buch
als Stern auf meinem Himmel
manchmal ein Mensch,
den ich nicht kenne,
der meine Worte erkennt.

Rose Ausländer

P.S. Auf meinem Bücherhimmel leuchteten in den vergangenen Wochen diese beiden Sterne: Mariana Leky „Was man von hier aus sehen kann“ und Michela Murgia „Accabadora“.

Sail on silver girl

Die Kraft und die Ruhe der Dinge, die endlos zu währen scheinen, weil sie ihren Weg zum Nichts sanft, ohne Lärm, ohne Empörung, ohne Unruhe vollenden, weil sie dem unvermeidlichen Tod ohne einen Schauer entgegengehen.

Aus: Isabelle Eberhardt „Sandmeere“

Als du gingst, wurde der Mond noch ein wenig dünner. Wie eine Wiege stand die Sichel am Firmament. Keine Bewegung, kein Geräusch störte die Nacht.

Die Stille über der Wüste ist vollkommen. Myriaden funkelnder Sterne wölben sich zu einem Zelt aus Brillanten. Schlaflos liege ich unter der Milchstraße. Allein. Eins mit allem. Sterne fallen. Für einen Moment bist auch du ganz nah. Du, die immer da war, wenn auch zuletzt immer weniger.

Wie die Sterne, die allmählich fahler werden. Bis sie für das Auge kaum noch zu erkennen sind und schließlich ganz verblassen. Ein neuer Tag ist angebrochen. Kraftvoll blauorange kündigte er sich an, noch kalt von der Nacht, verschwamm in allerlei Rosatönen sodann, bis gleißendes Licht sich über das Meer aus Dünen ergoß. So strahlend, so schön, dass ich mich erinnerte:

 Und Wiesen gibt es noch / und Bäume und / Sonnenuntergänge / und / Meer / und Sterne / und das Wort / das Lied / und Menschen / und

Rose Ausländer

… und Sonnenaufgänge über der Wüste. Vieles kann einer dem anderen abnehmen. Sterben gehört nicht dazu. Adieu, liebste M., hab Dank für alles, was du mir warst und bleiben wirst, solange ich lebe!

Hollywood in der Heide

Immer sind es Bäume
die mich verzaubern

Aus ihrem Wurzelwerk schöpfe ich
die Kraft für mein Lied

Ihr Laub flüstert mir
grüne Geschichten

Jeder Baum ein Gebet
das den Himmel beschwört

Grün die Farbe der Gnade
Grün die Farbe des Glücks

Rose Ausländer: Die Bäume

Die Eichen im Ilex-Dickicht findest du zwischen Schneverdingen und Niederhaverbeck in der Lüneburger Heide. Immer wieder zieht es mich in diesem Frühling dorthin. Gerade habe ich gelernt, dass Ilex auf Englisch „holly“ heißt. Hollywood in der Heide – eine Traumfabrik eigener Art, auch ohne Walk of Fame.

Die Farbe der Gnade

P1100118Immer sind es Bäume
die mich verzaubern

Aus ihrem Wurzelwerk schöpfe ich
die Kraft für mein Lied

P1100128Ihr Laub flüstert mir
grüne Geschichten

Jeder Baum ein Gebet
das den Himmel beschwört

P1100162Grün die Farbe der Gnade
Grün die Farbe des Glücks

Rose Ausländer: Die Bäume

P1100166Manchmal fällt es mir schwer, zur Ruhe zu kommen. Manchmal schnappe ich mir dann mein Fahrrad und trete fest in die Pedale. Manchmal lese ich Gedichte und spüre dem Geschmack von Worten nach. Manchmal treffen sich Lieblingsorte und Lieblingsdichter.