Alle Jakobswege führen nach Santiago de Compostela, zum Grab des Apostels. Den letzten Teil des Wegs zum Kap von Finisterre an der Westküste Galiciens hat die katholische Kirche nie offiziell anerkannt. Dort, am Ende einer kleinen Halbinsel aus Granitgestein, enden wirklich alle Wege. Jenseits der schroffen Felslandschaft gibt es nur noch das weite Meer. Zu Fuß geht es nirgends mehr hin.
Für mich sind die knapp 90 Kilometer von Santiago nach Finisterre der schönste Teil des Camino, eigentlich weniger eine Fortsetzung des alten als ein eigener neuer Weg.
Zwei Tage lang fällt ununterbrochen ein wunderbar leichter Regen aus grauen Wolken auf Moore und sanft rollende Hügel. Aus den Flechtenbärten knorriger Bäume am Wegesrand tropft es so rhythmisch, dass man sofort weiß: Diese Landschaft, dieses Wetter sind einander sehr vertraut.
Ein Denkmal am Ortsausgang von Negreira rührt mich zu Tränen. Ein Mann, in Bronze gegossen, das kleine Bündel am Stock über der Schulter, die ernste Miene, der forsche Schritt – so wird er gehen in alle Ewigkeit.
Erst auf den zweiten Blick erkenne ich, dass da einer zieht an seinem festen Bein. Ein Junge. Sein Junge. Noch hält er den Vater. Gleich wird er sich resigniert umwenden zur Mutter, die still auf der anderen Seite sitzt, das jüngere Kind auf den Knien. Auch das ist Teil dieses Stücks Welt.
Regen passt gut zu Tränen. Ich lasse sie fließen. Die lieben Verstorbenen der vergangenen Jahre sind ganz nah. Wie gut der stille Weg von Santiago nach Finisterre tut! „Ein Ort ist beim Reisen niemals nur ein Ort, er ist der Schnittpunkt von Raum, Zeit und dem eigenen augenblicklichen Selbst“, schreibt die Hamburger Autorin Tina Uebel in ihrem Reisebericht über die Nordwestpassage.
Viele Kilometer später blitzt unter inzwischen wolkenlosem Himmel der Atlantik durch Ginster, Eukalyptus und Pinien. So britisch die Landschaft zu Beginn anmutete, so griechisch erscheint sie mir jetzt und so griechisch werden auch meine Erinnerungen. Alles war schon einmal da.
Weit führt mich der Weg nach Westen, dorthin, wo Tag für Tag die Sonne im Meer versinkt. Finis terrae, Ende der Erde, sagten die Römer. Finisterre bzw. Fisterra sagen die Spanier.
Es ist nicht der westlichste Punkt des europäischen Festlands – der befindet sich in Portugal – und noch nicht einmal der westlichste Punkt des spanischen Festlands – der liegt ein Stück weiter nördlich auf dem Weg nach Muxía – aber das tut seiner Magie nicht den mindesten Abbruch.
Ein Silberstreif am Horizont markiert die Grenze zum Meer. Wenn ein Schiff bis dorthin gefahren ist, fällt es ins Bodenlose, ganz klar. An diesem Ort erstaunt es kein bisschen, dass Menschen sich die Erde einst als Scheibe vorstellten.