Mit wehendem Haar

Wenn einer fortgeht, muss er den Hut
mit den Muscheln, die er sommerüber
gesammelt hat, ins Meer werfen
und fahren mit wehendem Haar,

er muss den Tisch, den er seiner Liebe
deckte, ins Meer stürzen,
er muss den Rest des Weins,
der im Glas blieb, ins Meer schütten,

er muss den Fischen sein Brot geben
und einen Tropfen Blut ins Meer mischen,
er muss sein Messer gut in die Wellen treiben
und seinen Schuh versenken,
Herz, Anker und Kreuz,
und fahren mit wehendem Haar!

Dann wird er wiederkommen.
Wann?
Frag nicht.

Ingeborg Bachmann: Lieder von einer Insel

Es war ein Tag, an dem die Jahreszeiten miteinander rangen. Im frischen Morgenwind umflügelten Schwäne zart den eigenen Kopf. Nixen räkelten den smaragdgrünen Leib auf nieselfeuchten Steinen, die mählich in der Sonne trockneten. Weit ging der Blick hinaus aufs Meer und zugleich tief ins Innere. Die alte Eule lächelte wissend.

Von Dichtern und Elchen

Blau war die Stunde. Blau das zarte Band, das der Vorfrühling durch die überraschend lauen Lüfte über der Lübecker Bucht flattern ließ. Umso mehr staunten all die Grauhimmel-Müden, die an diesem Wochenende über die Travemünder Promenade spazierten, als sie auf eine Tierfamilie trafen, die um diese Jahreszeit so niemand mehr (respektive: noch niemand) erwartet hätte, schon gar nicht am Ostseestrand. Die Flaneure reagierten mit Staunen, Lachen und den unvermeidlichen Selfies. Und aus dem Himmelsblau ertönte die Stimme des im Dezember verstorbenen Dichters und Zeichners F.W. Bernstein: „Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche…“

Grinsend bummelten wir durch das Travestädtchen. Als wir uns nach einer großen Portion Pannfisch auf den Weg zurück zum Strandbahnhof machten, war die Sonne schon eine Weile untergegangen. „Dunkel war’s, der Mond schien helle…“

Nicht minder strahlend empfing uns zu unserem Entzücken die nun schon vertraute Tierfamilie.

Jetzt hielt es auch den unvergleichlichen Robert Gernhardt nicht mehr. Sogleich begann er ein „Gespräch mit dem Engel“, vielleicht dem auf der Nachbarwolke:

Ein Geräusch in der Luft, / wie von großen Maschinen:

„Sagn Sie mal – lässt sich das nicht abstellen?“

„Damit kann ich leider nicht dienen. / Das ist das Stöhnen Gottes / beim Betrachten seiner Welten. / Das heißt: Manchmal lacht er auch über sie. / Aber selten.“

So blau

Blau ist die Farbe von Himmel und Wasser. Die Farbe der Freiheit, der Sehnsucht, der Ruhe und der Klarheit, der Kälte, der Harmonie und der Treue. Blau lässt Raum für vieles.

In den vergangenen Tagen habe ich bereits ein paar Fundstücke gezeigt, die ich von meinem jüngsten Ausflug an die Ostsee mitgebracht habe. Das war praktisch der Beifang. Eigentlich ging es mir darum, endlich einmal unten am Brodtener Ufer entlang zu laufen, einer bis zu zwanzig Meter hohen Steilküste zwischen Niendorf und Travemünde. Bisher hatte ich die herrlich weiten Blicke von oben genossen. Wenn du mal schauen willst – hier und hier findest du ein paar Eindrücke.

Entstanden ist das Steilufer am Ende der letzten großen Eiszeit. Mit der einsetzenden Eisschmelze formte eine gewaltige Gletscherzunge die heutige Lübecker Bucht. Sand, Mergel und Findlinge lagerten sich in Form einer Moräne ab, die den Verlauf der Ostseeküste prägt.

Wie sie wohl in hundert Jahren aussehen wird? Jahr für Jahr frißt sich das Meer am Brodtener Ufer um durchschnittlich einen Meter ins Land hinein. Man kann förmlich dabei zusehen, wie der Fuß- und Radweg oben immer dichter an die Abbruchkante rückt. Ein Haus, um dessen Traumlage ich die Besitzer noch vor wenigen Jahren beneidete, wurde abgerissen. Viel zu gefährlich, es zu betreten.

Unten am Wasser zeugen entwurzelte Baumstämme und herabgestürzte Geschiebeblöcke von der Kraft der Herbst- und Winterstürme, von peitschendem Wellenschlag und Starkregen. Die aus dem Kliff herausgewaschenen Sandmassen werden durch Strömungen parallel zur Küste sowohl nach Travemünde als auch in die innere Lübecker Bucht gespült, wo sie Strandurlauber-Herzen höher schlagen lassen.

Blau ist die Farbe von Himmel und Wasser. Blau weitet den Blick und schafft Raum.

Für den kreativen Umgang mit Steinen zum Beispiel. Und mit allem, was sonst so zur Hand ist.

Neulich an der Ostsee

„Ein Krabbenbrötchen, bitte!“ „Lecker Krabbenbrötchen?“, fragt die Verkäuferin in der Fischbude und strahlt mich an. Wenn ich die Wahl habe – unbedingt! Dem Mann in der Schlange hinter mir sieht man die Vorfreude schon an. „Auch’n lecker Krabbenbrötchen“, sagt er, als er an der Reihe ist, und grinst. Kauend schlendere ich durch den Niendorfer Hafen. „Moooin“, ruft ein offensichtlich gut gelaunter Fischer, der gerade seinen Kutter verlässt. „Schönen Tach noch!“ „Für Sie auch, danke!“

Was soll ich sagen: Das ging den ganzen Weg bis Travemünde so. Nette kleine Schwätzchen, wo immer ich einen Augenblick Rast machte. Reservierte Norddeutsche? Von wegen! Und dazu weite Blicke, Schwäne bis (fast) zum Horizont – und Leben dicht am Abgrund.

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