Meeresgrund und Horizont

Wenn man die kleine schwarze Schnecke sanft zwischen Daumen und Zeigefinger schaukelt, schaut sie aus ihrem Gehäuse heraus. Sie glaubt, was sich da bewegt, sei das Meer, das ihr Nahrung schenkt, erzählt Roman, der gerade sein freiwilliges ökologisches Jahr auf Langeneß macht. Ob es die gleiche Schnecke ist, die mit zwei Stundenkilometern auf ihrem eigenen Schleim im Meer surft, habe ich mir in meiner Begeisterung nicht gemerkt. Natürlich sucht die Schnecke nicht zum Spaß nach der perfekten Welle. Nach ihrem kühnen Ritt saugt sie den Schleim wieder ein – und mit ihm die Nahrungspartikel aus dem Wasser.

Das Watt ist voller Zauber. Sind das da vorn tatsächlich Baumstämme und Stubben? Wir mögen unseren Augen kaum trauen. Roman nickt. Auf dem Meeresboden nördlich von Langeneß gibt es einen ganzen „Wald“. 3000 Jahre alt sollen die erst vor wenigen Jahren frei gespülten Zeugen einer längst versunkenen Welt sein. Wie mag sie ausgesehen haben, diese andere Welt? Wer ging damals, wo wir jetzt gehen? Tief in Gedanken schlickern wir durchs Watt, die Warften mit ihren niedrigen Häusern nur eine ferne Ahnung, einer Fata Morgana nicht unähnlich.

Platt ist das Watt. An Land ist es kaum weniger flach. Das ist praktisch. So weiß man schon am Montag, wer Sonntagnachmittag zum Kaffee kommt. Aber das weiß man als Halligbewohner vermutlich ohnehin. 124 Menschen leben zurzeit auf Langeneß, der größten der nur mit einem Damm aus aufeinander geschichteten Steinen geschützten Marschinseln vor der schleswig-holsteinischen Nordseeküste. 124 Menschen, darunter eine Junggesellin und sechs Junggesellen. Zum Glück entscheidet sich ab und zu mal eine TouristIn zu bleiben. Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei…

Dein Nachbar kennt dich besser als du dich selbst“, sagt Melk. Das muss man mögen. Melk, so scheint es, tut das. Der Enddreißiger ist nach langen Jahren auf der Insel Föhr auf die Heimat-Hallig zurückgekehrt. Mit nordisch-sprödem Charme führt er uns durch das kleine Museum auf der Ketelswarf(t). Außerdem ist er Fahrer des einzigen Halligtaxis, Rettungssanitäter und Vorsitzender des Ausschusses für Arbeit und Soziales. Wer irgendwo einen verwaisten Seehund sichtet, ruft Melk an. Und im Sommer weiden auf seinen 17 Hektar Salzwiesen 23 Stück Rindvieh. Im Winter kehren sie aufs Festland zurück. Da ist zu häufig Land unter auf der Hallig. Bis zu 20 Mal im Jahr wird Langeneß, das nur wenige Meter über dem Meeresspiegel liegt, bei starken Fluten überspült, vor allem im Winterhalbjahr. Nur die Warften, die künstlich aufgeschütteten Hügel, auf denen die Häuser stehen, ragen dann noch aus dem Wasser.

P.S. Hier war es in den vergangenen Monaten still. Das soll sich jetzt wieder ändern. Mit etwas reduzierter Schlagzahl vielleicht. Herzliche Spätsommergrüße!  

Nordisch by nature

P1150606Hier ist ja nichts! Das Gesicht der älteren Berlinerin ist eine Mischung aus Staunen und Entsetzen, der Vorwurf in ihrer Stimme nicht zu überhören. Kein Wasser, sagt sie. Noch nicht mal Strand. Wann immer sie über den Deich geschaut habe, sei das so gewesen, nun schon den dritten Tag.

P1150577Der Deich, das ist die Trennlinie. Mit jedem Schritt den grünen Wall hinauf wird der Wind stärker. Sobald du oben stehst und dir die flatternden Haare aus dem Gesicht streichst, gibt es keine Grenzen mehr. So weit reicht der Blick, dass du meinst, die Krümmung der Erdoberfläche zu sehen.

P1150643Das ist’s, was mich hier so entzückt:
Diese unbedingte Weite,
dieser Horizont in Tief‘ und Breite
verschwenderisch hinausgerückt.

Christian Morgenstern: Weiter Horizont

P1150802Was du siehst, erscheint dir vielleicht nicht spektakulär. Links viele Kilometer Deich. Rechts viele Kilometer Deich. Vor dir ein paar Strandkörbe. Oder Schafe. Dahinter die Nordsee. Kann sein, sie ist gerade wieder einmal nicht da und du erkennst nur so ein schmales Geriffel weit draußen.

P1150677Und mittendrin Neptuns Schloss, das eigentlich eine Bohrinsel ist.

P1150615Zwischen Salzwiesen und Watt führt ein steinerner Damm hinaus aufs offene Meer. Und während ein vielstimmiger Vogelchor sogar den Wind übertönt, wird dein Atem allmählich tief und ruhig.

P1150581Es schmückt sich das Watt in den Farben des Himmels. Zuerst in allerlei Grau- und Blautönen.

P1150665Später am Nachmittag glitzert es in silberner Robe. Das ist die Zeit, in der ein Spaziergang Richtung Horizont besonders magisch ist.

P1150823Marie! ruft ein junger Vater seiner kleinen Tochter zu. Weißt du, was das Besondere ist: Wir laufen auf dem Meeresboden! Marie ist das egal. Ihr Himmel ist schlammfarben. Beseeligt vom Schmatzen des Schlicks unter ihren nackten Füßchen gräbt sie mit beiden Händen nach Muscheln und Wattwürmern.

P1150725Am Abend glüht das menschenleere Watt noch einmal in Orange, Rot und Rosé, bevor es erlischt.

P1150738Ans Haff nun fliegt die Möwe,
Und Dämmerung bricht herein;
Über die feuchten Watten
Spiegelt der Abendschein.

Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her;
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.

Ich höre des gärenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton,
Einsames Vogelrufen –
So war es immer schon.

Noch einmal schauert leise
Und schweiget dann der Wind;
Vernehmlich werden die Stimmen,
Die über der Tiefe sind.

Theodor Storm: Meeresstrand

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Menschen am Meer

P1040792Freundin W. hatte mit ihren Urlaubsfotos aus Island, man kann das nicht anders sagen, Pawlowsche Reflexe bei uns ausgelöst, die spontan nach wenigstens ansatzweiser Befriedigung lechzten. Im gerade noch Tagesausflug-tauglichen Umkreis um Hamburg fiel mir nur St. Peter-Ording (kurz: SPO) ein. Der Ort selbst ist ziemlich hässlich, aber er liegt toll: am äußersten Ende der Halbinsel Eiderstedt, die sich weit ins Schleswig-Holsteinische Wattenmeer schiebt. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: SPO kommt mir eigentlich immer in den Sinn, wenn die Sehnsucht nach Meer und Weite im Alltag allzu groß wird. Und ich bin noch nie enttäuscht worden.

Andere suchten ebenfalls:

P1040799Strandkrabben zum Beispiel. „Mama, guck mal, die Riesengarnele trägt einen Seestern auf dem Rücken!“ Vor lauter Begeisterung vergaß ich zu fotografieren und schaute gemeinsam mit der Kleinfamilie zu, wie sich die Wunderkrabbe samt Reiter in den Schlick grub und für dieses Mal dem Zugriff der gierigen Möwen entzog.

P1040805Oder Muscheln.

P1040808Reinigung nach dem ausführlichen Bad im Schlamm. Gut, dass die Oma zum Rückenschrubben mit dabei war.

P1040806Den Traumprinzen vielleicht. „Ein Schiff wird kommen, und das bringt mir den einen…“

P1040822Und zwischen Strandkörben sogar den Bund fürs Leben. Passenderweise direkt neben der Arche Noah.

P1040781Nur die riesige orange-geblümte Badehose, die suchte seltsamerweise niemand.

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