Winterwunderland

Etwas aus den nebelsatten
Lüften löste sich und wuchs
über Nacht als weißer Schatten
eng um Tanne, Baum und Buchs.

Und erglänzte wie das Weiche
Weiße, das aus Wolken fällt,
und erlöste stumm in bleiche
Schönheit eine dunkle Welt.

Gottfried Benn: Rauhreif (1912)

„Rauhreif“ ist vielleicht nicht Gottfried Benns stärkstes Gedicht, aber doch anrührend, finde ich. Und allemal passend zu der Punktlandung, die der Wettergott in Hamburg zur Wintersonnenwende hinlegte.

Vor tausend Jahren schon

Oft weiß ich ganz genau: Ich … war … einmal;
Ich habe schon einmal all dies gesehn;
Der Baum vor meinem Fenster rauschte mir
Ganz so wie jetzt vor tausend Jahren schon;
All dieser Schmerz, all diese Lust ist nur
Ein Nochmals, Immerwieder, Spiegelung
Durch Raum und Zeit. – Wie sonderbar das ist:
Ein Fließen, Sinken, Untertauchen und
Ein neu Empor im gleichen Strome: Ich
Und immer wieder ich: Ich … war … einmal.

Otto Julius Bierbaum (1865-1910): Ich … war … einmal

Auf die Mütze

Gestern war in meiner Mütze
Mir mal wieder was nicht recht;
Die Natur schien mir nichts nütze
Und der Mensch erbärmlich schlecht.

Meine Ehgemahlin hab‘ ich
Ganz gehörig angeblärrt,
Drauf aus purem Zorn begab ich
Mich ins Symphoniekonzert.

Doch auch dies war nicht so labend,
Wie ich eigentlich gedacht,
Weil man da den ganzen Abend
Wieder mal Musik gemacht.

Wilhelm Busch (1832 – 1908): Gestern war in meiner Mütze

Ob es daran lag, dass das Konzert nur gestreamt war?

Unter Schneeleuten

Juhu, der Wettergott hatte ein Einsehen! Endlich hat es auch in Hamburg geschneit, und wir können auf unseren langen Spaziergängen durch Wälder und Parks zur Abwechslung mal etwas anderes bauen als Unterstände aus herumliegenden Ästen und Zweigen. Zumindest die kleineren Stöckchen werden jetzt nämlich gebraucht, um damit Schneemänner und -frauen zu verzieren. Aber sieh selbst, wer mir heute auf meiner Runde durch den Stadtpark so alles begegnete:

Die Kleine: Immer auf dem P(f)osten.

Der Ahnungslose: Mein Name ist Hase.

Der Bissige: Hier wache ich!

Die Fröhliche: Sunny side up!

Die Betörende: Können diese Augen lügen?

Der Gebeutelte: Das Leben ist kein Ponyhof.

Der Draufgänger: Sex and Drugs and Rock‘n‘Roll.

Die Prinzessin: So weiß wie Schnee, so rot wie Blut…

Der Charmeur: Ich seh‘ dir in die Augen, Kleines.

Der Brummige: Hier ist der Bär los.

Der Baumeister: With a little help from my friends.

Ein fernes Lied

Ganz still zuweilen wie ein Traum
klingt in dir auf ein fernes Lied.
Du weißt nicht, wie es plötzlich kam,
du weißt nicht, was es von dir will.
Und wie ein Traum ganz leis und still
verklingt es wieder, wie es kam.

Wie plötzlich mitten im Gewühl
der Straße, mitten oft im Winter
ein Hauch von Rosen dich umweht,
wie oder dann und wann ein Bild
aus längst vergessenen Kindertagen
mit fragenden Augen vor dir steht.

Ganz still und leise, wie ein Traum.
Du weißt nicht, wie es plötzlich kam,
du weißt nicht, was es von dir will,
und wie ein Traum ganz leis und still
verblasst es wieder, wie es kam.

Cäsar Otto Hugo Flaischlen (1864 – 1920): Ganz still zuweilen wie ein Traum

Geschenkte Räume

Der Förster kam mir mit seinem Hund entgegen, dann eine Weile niemand mehr. Kaum ist das Wetter mal ein bisschen unbeständig, feixte ich innerlich, schon hat man ganze Wälder für sich. Wobei „kaum“ und „ein bisschen“ natürlich arge Euphemismen sind. So oft wie in diesem sogenannten Winter bin ich lange nicht mehr nass bis auf die Haut in die warme Stube zurückgekehrt. Man kann (respektive will) schließlich nicht zu jeder Verabredung in hochgebirgstauglicher Allwettermontur erscheinen. Aber welch ein Vergnügen ist es, wenn es denn passt, Schicht um Schicht anzulegen, Rucksack und Mütze aufzusetzen, die Kapuze tief in die Stirn zu ziehen – und in aller Seelenruhe zu einem ausgedehnten Spaziergang aufzubrechen. Mag es nur schauern, mag es stürmen!

Mich zog es wieder einmal ins Professormoor, von dem ich hier und da bereits erzählt habe. Ich liebe dieses Fleckchen Erde im äußersten Norden Hamburgs, und ich war schon x Mal dort. So wie an diesem Wochenende aber hatte ich das Feuchtbiotop im Duvenstedter Brook noch nie gesehen. So viel Wasser!

Wo nach den Dürresommern 2018 und 2019 kaum mehr als Pfützen zwischen den Grassoden auszumachen waren, ist eine veritable Seenlandschaft entstanden. An einigen Stellen reicht die ungewohnte Flut sogar bis an den Grenzwall zum Nachbarn Schleswig-Holstein. Der grasbewachsene schmale Damm erlaubt es Spaziergängern, das Moor mehr oder – wie jetzt gerade – etwas weniger trockenen Fußes zu queren.

Auf Hamburger Seite sah ich in einiger Entfernung zwei Männer mit Eimern und Spaten hantieren. NABU-Ehrenamtliche, wie sich herausstellte, als einer von ihnen sich bis auf Rufweite näherte. Überwadenhoch tauchten die Gummistiefel des Mannes bei jedem Schritt ins Wasser. Schritt. Stand. Nächster Schritt. Stand. Da weiß einer sehr genau, wohin er seine Füße setzt. Seit zwanzig Jahren schon hilft er zusammen mit anderen Freiwilligen, die teilweise noch viel länger dabei sind, dem Moor beim (Über-)Leben. Gerade dichten sie allerlei Rinnen und Gräben ab, damit nur ja nichts von dem kostbaren Nass abfließt. Die nächste Trockenperiode kommt bestimmt, auch wenn man sich das zurzeit kaum vorstellen kann.

Nach einem kurzen Schwätzchen ging ich meiner Wege, die für die nächsten Kilometer wirklich meine waren. Und während ich gleich-mäßig ausschritt und das leichte Nieseln in ergiebigeres Strömen überging, stellte sich dieses Gefühl ein, wie ich es auch aus wachen Stunden spät in der Nacht kenne, wenn alles um mich herum längst schläft: Geschenkte Zeit, geschenkte Räume.

Am eisblauen Meer

Während der Himmel über Hamburg allmählich eingrisselt, beame ich mich bei einem Pott Tee der Marke „Elfentraum“ zurück an die Ostsee, auf die Halbinsel Holnis. Ich habe das Naturschutzgebiet im Westen der Flensburger Förde neulich von Glücksburg aus umwandert. Es war ein so strahlend blauer Tag, dass ich nicht einen einzigen Kilometer im Auto oder Bus zurücklegen mochte. Man kann einen Rundgang aber sehr gut auch am Leuchtturm in Schausende oder am Fährhaus an der Ostseite beginnen – man verpasst keines der Highlights und spart einige Kilometer Fußmarsch.

Gleich hinter dem Leuchtturm öffnet sich ein Lebensraum, den es so an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste nur noch selten gibt: das Kleine Noor. Noore sind verlandete Meeresbuchten, die durch Bildung von Strandwällen nach und nach von der Förde, die ja selbst nicht anderes ist als eine (größere) Meeresbucht, getrennt wurden. Bis Anfang des vergangenen Jahrhunderts gab es zwischen dem Noor und der Ostsee noch eine offene Verbindung, die dann abgedeicht wurde. Das Noor wurde leergepumpt und es entstanden landwirtschaftliche Nutzflächen. 1995 kaufte die Stiftung Naturschutz den gesamten Bereich in der Absicht, den Deich an einigen Stellen zurückzubauen, um wieder einen natürlichen Einfluss des Meeres zu ermöglichen. Im Herbst 2002 setzte die Natur zum Überholmanöver an: Die Ostsee überflutete den Deich, es entstand eine mehrere Hektar große, von Brackwasser überstaute Fläche. Über den neuen Durchlass zur Ostsee führt nun eine Brücke.

Kaum hat man die hinter sich gelassen, fällt der Blick auf das Holnisser Kliff, das durch tektonische Verschiebungen während der letzten Eiszeit enstanden ist – und auf Berge von roten und gelben Ziegelsteinen am Strand. Wie auf der dänischen Seite gegenüber gab es auf der Halbinsel früher einige Ziegeleien. Mit dem Rückzug der Gletscher entstanden riesige Eisstauseen. Im ruhigen Wasser konnte sich das feine Sediment absetzen und mächtige Lehm- und Tonschichten bilden. Die Ziegelei Holnishof, von der die hier abgebildeten Ziegel stammen, war bis 1964 in Betrieb.

Auf der Steilküste lohnt es sich, einen Augenblick zu verharren. Bei guter Sicht kann man die gesamte Förde überblicken: das Noor auf der einen, die Salzwiese auf der anderen Seite, Dänemark natürlich, das von drei Seiten ganz nah ist, und weit im Osten vielleicht sogar das offene Meer…

Aber erst einmal führt der Weg weiter hinauf in den schattigen Norden. Eisblau ruht der Himmel über eisblauer See.

Nur ein paar Schritte sind es bis zu der Stelle, wo 1850 ein Flensburger Seemann seine letzte Ruhestätte fand. Da er an Cholera erkrankt war, wurde seinem Schiff auf dem Rückweg von Westindien die Einfuhr nach Flensburg verwehrt. Der Seemann starb an Bord und wurde von seinen Kameraden in aller Stille am Strand begraben. Ungefähr aus der selben Zeit datiert das (weniger fotogene) Soldatengrab auf der Ostseite von Holnis, das an eine See- und Landschlacht mit Dänemark und an den dänischen Soldaten erinnert, der damals auf seinem Schiff erschossen und ebenfalls am Strand begraben wurde.

Zwischen den beiden Gräbern lohnt ein „Boxenstopp“ im Fährhaus, das während meiner Wanderung leider noch Winterpause hatte. Von hier startete einst die Fähre, die Holnis mit dem dänischen Fördeufer verband. Schon im 13. Jahrhundert nutzten die Mönche vom Kloster Rude auf dem Gebiet des heutigen Glücksburg den kurzen Weg über das Wasser, um ihre Besitztümer auf Sundewitt und Broagerland zu erreichen. 1875 fand die letzte Personenüberfahrt statt. Ein Stück weiter treiben zwei Reiter beherzt ihre Pferde in die eiskalten Fluten, als hätten sie vor, ans gegenüberliegende Ufer zu reiten.