… und uns anlehnen

P1120757Man muss weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir stünden fest.
Man muss den Atem anhalten,
bis der Wind nachlässt
und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,
bis das Spiel von Licht und Schatten,
von Grün und Blau
die alten Muster zeigt
und wir zu Hause sind,
wo es auch sei,
und niedersitzen können und uns anlehnen
als sei es das Grab
unserer Mutter.

Hilde Domin: Ziehende Landschaft

P1120772Die Bäume, deren Wurzeln ich auslieh, um Hilde Domins Betrachtungen über Heimat und Fremde ein Gesicht zu geben, stehen etwas außerhalb der äthiopischen Kaiserstadt Gondar in einem Garten, der von einer starken Mauer umgeben ist. Mitten darin befindet sich ein Bassin und in dem Bassin ein Wasserschloss aus dem 17. Jahrhundert: das Bad von Kaiser Fasilidas. Das Bassin ist das ganze Jahr über leer. Nur zum Timkat-Fest, dem äthiopisch-orthodoxen Fest der Taufe Jesu im Januar, wird es gefüllt. Sobald der Bischof das Wasser geweiht hat, stürzen sich Kinder von den Bäumen am Rand hinein. Manchmal, so hörte ich, würde dabei auch ein neugieriger Japaner samt Kamera mitgerissen. Und dann ist wieder Ruhe.

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Entwurzelt

Halb schien sie sich an den mächtigen Stamm der Buche zu lehnen, halb den Baum zu umarmen. Wie ein Kind, dachte ich, das mit seinen dünnen kurzen Ärmchen nur einen kleinen Ausschnitt von so einem alten Riesen zu fassen kriegt. Unter dem Tuch, das sie zu einer Art Turban um den Kopf geschlungen hatte, schauten mir zwei dunkle Augen unverwandt entgegen. Vielleicht erwiderte sie auch nur meinen ebenfalls sehr direkten Blick.

Unter den Bäumen habe ich mit meinen Enkeln getanzt, sagte sie, als ich auf gleicher Höhe angekommen war.

Wie schön!

Nein, widersprach sie bestimmt. Meine Tochter hat alle Wurzeln von den Bäumen abgehackt.

Oh… Tochter und Enkel. Wurzeln. Baumstämme. Stammbäume… Als ich noch überlegte, von welchen Wurzeln die alte Frau wohl sprach, huschte ein Lächeln über ihr kleines Gesicht. Überraschend kraftvoll packte sie meine Hand: 1960 war ich mit meinem Mann auf dem Weg nach Istanbul. Er trug mich auf Händen, auch noch nach der Fehlgeburt… 1971 wurde meine Tochter geboren… Aber das eine hat mit dem anderen nichts zu tun… Habe ich nicht Recht?

Wenn ich das wüsste. Womöglich ist das auch gar nicht die entscheidende Frage, dachte ich, ganz plötzlich hineinkatapultiert in eigene familiäre Verstrickungen. Da war sie wieder, diese alte Sehnsucht:

„Jenseits von Richtig und Falsch gibt es einen Ort. Dort treffen wir uns.“ Zwei kurze Sätze des persischen Mystikers und Dichters Rumi (1207-1273).

Laut sagte ich: Da braucht man Geduld…

Geschichten zur Nacht

Ziefle_SunaPia Ziefle: Suna. Roman. Berlin 2013 (TB)

„Als ich begann, die Sprache meines Vaters zu lernen, ist sie in mich hineingerutscht, als würden Dinge und Wörter, Bilder und Töne nur zurück an ihren Platz rücken.“ An dieser Stelle ist die Geschichte, die den Leser quer durch Deutschland und halb Europa und weit ins vergangene Jahrhundert führt, beinahe schon zu Ende. Es ist die siebte Nacht, in der Luisa ihr Kind, das partout nicht schlafen will, durch das stille Haus trägt und erzählt und erzählt wie einst Sheherazade, sieht man einmal davon ab, dass es hier weniger ums Überleben als um Seelenfrieden geht. „Sie kann keine Wurzeln schlagen. Finden Sie Ihre“, hatte der alte Dorfarzt der jungen Mutter geraten.

Wurzeln. Davon hat die Protagonistin dieses wunderbaren Romans (und offenbar auch die Autorin Pia Ziefle selbst) so viele, das würde für ein kleines Wäldchen reichen. Da sind die deutschen Adoptiveltern, die serbische Mutter und der anatolische Vater, Großmütter und Großväter, Onkel und Tanten… Kriegskinder und Spätheimkehrer, die ersten Gastarbeiter in der Bundesrepublik… Jeder mit seiner ganz eigenen Sehnsucht, mit seinen eigenen Prüfungen und doch auch stellvertretend für viele. „Suna“ ist Familien- und Zeitgeschichte in einem.

Was mir an diesem Buch am besten gefällt? Einfach alles (abgesehen vielleicht vom Cover). Aber wenn ich mich entscheiden müsste: seine klare Struktur, die schnörkellos-poetische Sprache und die Vorurteilsfreiheit, mit der die Autorin jede ihrer Figuren zeichnet. Dieser Stimme würde ich gerne noch viele Nächte lauschen.