Was du siehst

Die Frage ist nicht, auf was du schaust, sondern was du siehst.

Henry David Thoreau (1817 – 1862)

Ich denke, der Naturphilosoph Thoreau hätte nichts dagegen, dass ich mir seinen schönen Satz über die Wahrnehmung ausleihe, während ich vor dem Haus der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen stehe und für einen Moment all die Inspiration spüre, die ich dort so viele Male erlebte, und mich schon vorfreue auf künftiges Augenfutter, wenn die Baustelle endlich keine Baustelle mehr ist.

Der Weg zum Schloss

Mecklenburg-Vorpommern ist neben Brandenburg das alleenreichste Bundesland.  Irgendwer hat mal ausgerechnet, dass die Baumreihen hintereinander gepflanzt von Lissabon bis Moskau reichen würden. Was für eine fantastische Reise das wäre!

Eine ganz besondere Allee schmiegt sich am Rand der Kleinstadt Klütz zwischen Wismar und Lübeck in die Feldmark. Sie verbindet das barocke Schloss Bothmer mit dem Nachbarort Hofzumfelde auf der anderen Hügelseite. Von weitem meint man, zweiköpfige Weiden zu erkennen. Tatsächlich handelt es sich um eine Reihe holländischer Linden, deren Stämme einst gespalten worden waren, so dass sich daraus jeweils zwei Kronen entwickelten.

Die seitlich sprießenden Äste und Zweige wurden so geschnitten, dass es aussieht, als würden sich die Bäume gegenseitig an den Händen fassen. Oder wie eine lange Girlande. So kam es zu dem Namen Festonallee.

Die Allee wird zeitgleich mit dem Bau des Schlosses angepflanzt worden sein. 72 Bäume waren es ursprünglich, inzwischen fehlen ein paar. Bewusst wurde der Weg durch den Hügel südlich des Schlosses geschnitten und so als Hauptzufahrt inszeniert. Kommt man von Hofzumfelde, ist zunächst nur das Giebeldreieck über dem Hauptgebäude des Schlosses sichtbar. Im weiteren Verlauf des Hohlwegs ist das Hauptgebäude immer mehr und schließlich in voller Höhe zu erkennen. Erst am Ende gibt die Allee den Blick auf den Ehrenhof der Schlossanlage frei.

Zwiesprache mit der Seele

Wie ist dir nun,
meine Seele?
Von allen Märkten
des Lebens fern,
darfst du nun ganz
dein selbst genießen.

Keine Frage
von Menschenlippen
fordert Antwort.
Keine Rede
noch Gegenrede
macht dich gemein.
Nur mit Himmel und Erde
hältst du
einsame Zwiesprach.
Und am liebsten
befreist du
dein stilles Glück,
dein stilles Weh
in wortlosen Liedern.

Wie ist dir nun,
meine Seele? Von allen Märkten
des Lebens fern
darfst du nun ganz
dein selbst genießen.

Christian Morgenstern: Am Meer

Das Sanfte und das Gute

Ich habe Menschen getroffen, die,
wenn man sie nach ihrem Namen fragte,
schüchtern – als ob sie gar nicht beanspruchen könnten,
auch noch eine Benennung zu haben −
„Fräulein Christian“ antworteten und dann:
„wie der Vorname“, sie wollten einem die Erfassung erleichtern,
kein schwieriger Name wie „Popiol“ oder „Babendererde“ −
„wie der Vorname“ – bitte, belasten Sie Ihr Erinnerungsvermögen nicht!

Ich habe Menschen getroffen, die
mit Eltern und vier Geschwistern in einer Stube
aufwuchsen, nachts, die Finger in den Ohren,
am Küchenherde lernten,
hochkamen, äußerlich schön und ladylike wie Gräfinnen
und innerlich sanft und fleißig wie Nausikaa,
die reine Stirn der Engel trugen.

Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,
woher das Sanfte und das Gute kommt,
weiß es auch heute nicht und muss nun gehn.

Gottfried Benn: Menschen getroffen

Metamorphose

Müsset im Naturbetrachten
Immer eins wie alles achten;
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen:
Denn was innen das ist außen.
So ergreifet ohne Säumnis
Heilig öffentlich Geheimnis.

Freuet euch des wahren Scheins,
Euch des ernsten Spieles:
Kein Lebendiges ist ein Eins,
Immer ist’s ein Vieles.

Johann Wolfgang von Goethe: Epirrhema

Morgenwonne

Ich bin so knallvergnügt erwacht.
Ich klatsche meine Hüften.
Das Wasser lockt. Die Seife lacht.
Es dürstet mich nach Lüften.

Ein schmuckes Laken macht einen Knicks
und gratuliert mir zum Baden.
Zwei schwarze Schuhe in blankem Wichs
betiteln mich „Euer Gnaden“.

Aus meiner tiefsten Seele zieht
mit Nasenflügelbeben
ein ungeheurer Appetit
nach Frühstück und nach Leben.

Joachim Ringelnatz: Morgenwonne

Büdelsdorfer Begegnungen

Ein kleiner Junge lässt selbstvergessen Steine durch die Finger gleiten.

Ein Paar erforscht den Raum im Raum.

Streifen verbinden sich zum Tanz.

Licht lenkt kleine und große Aufmerksamkeiten.

Eine Frau findet ihre Nische.

Ein Mann fragt sich, was das soll.

Ein Alien weist unbeirrt den Weg.

„Oh, guck mal, der Rote oben sieht aus wie Stefan Raab!“, ruft ein Mädchen.

Die Ente in der Badewanne muss auch sie lange suchen.

Mancher Dialog entsteht ganz zufällig.

Der kleine Junge ist längst nach Hause gegangen. Die Lotusblüten laden weiter zum Gespräch – noch bis zum 8. Oktober auf der NordArt in Büdelsdorf bei Rendsburg. Ältere Posts über die Kunstausstellung in der ehemaligen Eisengießerei Carlshütte findest du hier und hier.